[WARNUNG: REIFER INHALT] "Was, wenn er ein Tagtraum ist, getarnt als Albtraum?" ___ Staffel 1 - ABGESCHLOSSEN In ihren Tagträumen fand ihr Hochzeitstag immer an einem schönen sonnigen Tag statt. Wer hätte gedacht, dass sie mitten in der Nacht heiraten würde, und zwar ein Wesen der Nacht?
„Milady, sie sind hier ... der Prinz ist hier."
Evies Schultern spannten sich unmittelbar an, als sie die aufgeregte Stimme ihrer Zofe vernahm. Kalter Schweiß rann ihr den Rücken herunter, und sie warf einen beunruhigten Blick zu ihrer Mutter, welche gerade in ihr Zimmer getreten war.
„Mutter, ich..." Evie ergriff instinktiv den Rocksaum ihrer Mutter. Sie konnte sich nicht zurückhalten. Sie hatte gedacht, dass sie sich in den letzten Tagen ausreichend vorbereitet hätte, doch nun schien es, als würde die Angst und Ungewissheit ihre Entschlossenheit untergraben, jetzt da der entscheidende Moment gekommen war.
„Beruhige dich, mein Kind", sagte ihre Mutter und umarmte sie tröstend, doch die Sorge in ihren Augen war nicht zu übersehen. „Mach dir keine Sorgen, du schaffst das, mein Liebes", flüsterte sie, während sie Evie sanft über den Rücken strich. „Vergiss nicht den Grund, warum du dies tun musst, Evie..."
Ihre Mutter küsste sie auf den Kopf, und obwohl sie nicht erschüttert wirkte, spürte Evie die Nervosität und Verzweiflung ihrer Mutter.
Evie atmete tief durch. „Ja, Mutter", entgegnete sie, während sie versuchte, ein erzwungenes Lächeln aufzulegen. „Ich schaffe das."
„Braves Mädchen..." Noch einmal schlossen sich die Arme ihrer Mutter für eine letzte Umarmung um sie, und nach einem Moment nickte ihre Mutter der Zofe zu.
„Ich werde mich nun den Gästen widmen, während du dich fertigmachst", sagte sie zu Evie, und nachdem sie ihrer Tochter ein letztes aufmunterndes Lächeln zugeworfen hatte, verließ Evies Mutter schließlich das Zimmer.
Evie schloss die Augen und ihre Zofe begann sofort, sich um sie zu kümmern. Sie gab ihr Bestes, um ihr pochendes Herz zu beruhigen, sprach innerlich mit sich selbst, sagte sich, dass alles in Ordnung sein würde. Sie war so sehr darauf konzentriert, ihre Entschlossenheit zu stärken, dass sie beinahe zuckte, als die Zofe endlich sprach.
„Ihr seht umwerfend aus, Milady." Evies Blicke flogen zum Spiegel und sie betrachtete ihr Spiegelbild. Ihr Haar war wunderschön frisiert; ihr Gesicht gerade so geschminkt, dass ihre natürlichen, unschuldigen Züge hervorgehoben wurden.
Evie betrachtete sich still. Schließlich war er gekommen, der Tag ihrer Hochzeit. Als sie jünger war, hatte sie von diesem Tag geträumt, sich ausgemalt, wie märchenhaft es sein würde, den Mann ihrer Träume zu heiraten. Sie hatte sich vorgestellt, wie sie vor lauter Glück und Aufregung strahlte, als sie ihrem Traumbräutigam entgegenschritt.
Doch keiner dieser Träume würde sich erfüllen. Anstatt Vorfreude empfand ihr Herz Furcht und Unbehagen. Das war niemandem zu verübeln, denn wie bei den meisten Frauen aus den höchsten Machtebenen konnte auch Evie nicht selbst wählen, wen sie heiraten würde. Sie hatte irrtümlicherweise und naiverweise geglaubt, sie sei davor sicher, weil sie keine Prinzessin war. Doch als Tochter der mächtigsten Adelsfamilie des gesamten Reiches konnte sie diesem Schicksal nicht entgehen. Tatsächlich war sie der Meinung, dass es ihr schlechter ergangen war als allen anderen, die sie kannte, möglicherweise sogar schlechter als den Prinzessinnen von irgendwelchen Reichen. Immerhin wurden diese Prinzessinnen mit Kaisern und hochrangigen Militärgenerälen aus benachbarten menschlichen Reich
en verheiratet.
Ja, auch sie sollte einen Prinzen heiraten, aber ... im Gegensatz zu diesen Prinzessinnen war ihr zukünftiger Ehemann kein Mensch … er war ein Vampir. Und Vampire waren ihre Feinde, die Todfeinde des Menschen.
„Es ist Zeit, Milady." Die Stimme der Zofe ließ sie erneut von ihrem Sitz aufschrecken. Sie ließ einen weiteren langen, tiefen Seufzer heraus – denn adlige Damen wie sie drückten ihr Missfallen nicht laut aus –, bevor sie mit erhobenem Haupt aufstand und zur Tür ging.Die Tür am Eingang wurde für sie aufgeschlossen und sie trat anmutig über die Schwelle, bevor sie ruhig den Korridor entlangschritt. Sie konnte nicht zählen, wie oft sie tief durchatmete, während sie auf diese Türen zuging, Türen, die mit jedem Schritt bedrohlicher aussahen. Mit einem letzten Schritt stand sie schließlich kurz vor den großen Doppeltüren, die zum Hochzeitssaal führten.
'Sei stark, Evie. Um deinetwillen und um des ganzen Reiches willen', flüsterte sie sich immer wieder zu. Sie richtete ihre Schultern auf und hob den Blick noch einmal, während sie darauf wartete, dass die Türen geöffnet wurden. Der Mond und die Sterne strahlten hell auf sie herab.
In ihren Tagträumen fand ihre Hochzeit immer an einem sonnigen Tag statt, umgeben von tanzenden Blütenblättern im Wind. Wer hätte gedacht, dass sie mitten in der Nacht heiraten würde – und dazu noch eine Kreatur der Nacht?
Der Himmel war klar und beruhigend friedlich. Die Sterne zwinkerten ihr zu, aber selbst die Ruhe des Himmels konnte die Unruhe nicht lindern, die in ihr brodelte. Ihr Puls raste und alles, was sie tun konnte, war, tief durchzuatmen, immer wieder. Ihre Hände zitterten und sie musste all ihre Kraft aufwenden, um sie erneut zu beruhigen.
Dann wurde ihre Anwesenheit verkündet und endlich begann der Einzug.
Der Saal, den sie betrat, war von Luxus geprägt und ein Fest für die Augen, doch entgegen all der prachtvollen Schönheit, die den Raum füllte, war die Atmosphäre, wie zu erwarten, angespannt und düster. Es war extrem selten, dass Vampire und Menschen unter einem Dach zusammenkamen. Solche Anlässe gab es natürlich schon, doch diesmal bestand nicht die Absicht, einander zu töten. Dank dieser Hochzeit einigten sich Vampire und Menschen auf einen Waffenstillstand, den ersten in der Geschichte.
Als sie dem Altar näher kam, klammerten sich ihre langen, schlanken Finger fest an ihr Kleid – eine Geste, die von den Gästen nicht bemerkt wurde, weil ihre Hände vom üppigen Faltenwurf ihres Kleides verborgen waren –, doch Evies Blick blieb auf dem Boden fixiert. Ihr Gesicht war noch nach vorne gerichtet, aber ihre Augen waren auf diesen einen Punkt gerichtet, immer eineinhalb Meter vor ihr auf dem Boden. Sie konnte sich nicht entspannen. Sie fühlte sich, als würde sie auf einem schmalen, dünnen Weg zwischen Vampir- und Menschenarmeen spazieren, kurz bevor diese aufeinanderprallen und sich gegenseitig vernichten. Vor allem aber kam sie sich vor wie ein kleines, unschuldiges Lamm, das sich freiwillig zum Schlachter begibt, um geopfert zu werden, obwohl ihr versprochen wurde, dass ihr zukünftiger Ehemann und die Vampire ihr nie etwas antun würden.
Die Spannung lag so schwer in der Luft, dass sie am liebsten umgedreht und davongelaufen wäre, doch das tat sie nicht. Sie konnte nicht.
Evie hörte nichts außer dem lauten Klopfen ihres eigenen Herzschlags. Sie konnte nicht einmal die Augen heben, um einen Blick auf ihren zukünftigen Ehemann zu werfen, denn sie war in Todesangst. Alle ihre Begegnungen mit Vampiren hatten ihr tiefe Angst eingejagt. Zugegeben, sie hatte nicht viele von ihnen gesehen, aber vor fünf Jahren war ihr ein gefangener Vampir begegnet. Der Vampir hatte seine scharfen Zähne gefletscht und die Entführer angeknurrt, vor Zorn und Abscheu, und seine Augen hatten blutrot geleuchtet, im starken Kontrast zu seiner bleichen Haut. Dieser Anblick hatte Evie in Schrecken versetzt. Gleiches galt für die Vampire, die vor einem Jahr ihre Kutsche überfallen hatten.
Sie fürchtete sich vor allen Vampiren. Alle Menschen fürchteten sich vor Vampiren. Vampire waren die bösen Monster in den Geschichten, die Mütter ihren Kindern erzählten, um sie zu erschrecken. Und doch war sie hier und im Begriff, einen von ihnen zu heiraten.
In ihren eigenen Ängsten verloren, merkte Evie nicht, dass sie den Altar erreicht hatte und wurde jäh zurück in die Gegenwart gerufen, als eine Hand in ihr Blickfeld trat. Beinahe wäre sie vor Schreck gestolpert. Sie starrte auf die Hand und schluckte. Sie wusste, dass dies die Hand des Vampirprinzen war, den sie zu heiraten im Begriff war.
Langsam hob sie ihren Blick, er wanderte von seiner Hand hoch zum Ellbogen, weiter über den Unterleib, bis er auf seiner Brust innehielt. Sie atmete leise ein, dann wanderte ihr Blick weiter nach oben und blieb schließlich auf seinem Gesicht stehen.
Und in dem Moment, als ihre Blicke sich trafen... hielt Evies Herz für einen Moment inne.