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Kapitel 19: Die Prüfungen des Hüters

Alle starten wortlos auf das Licht im Wald. Noch nie hatte einer verstehen können, was es sagte. Doch heute war es zum ersten Mal anders. Jeder hatte die Worte gehört.

Langsam drehten alle ihre Blicke zu Luc und hatten denselben Gedanken: 'Was war an Luc anders, dass der Hüter auf ihn reagierte.'

Dann sprach Luc es aus: "Warum hast du auf mich gewartet und nicht auf die anderen reagiert?"

Die Stimme antwortete nach einer kurzen Pause: "Weil du die Kraft besitzt und die Verbindung zur Natur."

Sie legte erneut eine Pause ein. Keiner wusste, wie zu reagieren war. Doch die Stimme fuhr fort.

"Da du nun zu mir gekommen bist, wirst du die Geheimnisse dieses Waldes lernen. Doch zuerst musst du die Prüfungen durchlaufen. Durch die Prüfungen werde ich beurteilen, ob du bereit bist für den Weg, der vor dir liegt."

Wie aus dem Nichts beschleunigte das Licht und raste auf Luc zu. Bevor dieser ausweichen konnte, krachte es in ihn hinein und er befand sich wieder in absoluter Dunkelheit. Es war wie in seinem Traum. 

Dann erklang die Stimme erneut.

"Ich bin der Hüter des Waldes. Ich hüte, das Wissen von vielen zu bewahren. Du wirst dich meinen Prüfungen stellen, um zu beweisen, ob du das Recht hast, dieses Wissen für dich zu beanspruchen. Normalerweise hättest du drei Tage Zeit. Allerdings warten in der weiten Welt auf dich andere mit ihren eigenen Zielen. Deshalb gebe ich dir vierundzwanzig Stunden für deine Prüfungen. Viel Erfolg. Ich warte am Ende auf dich."

Die Szenerie änderte sich. Vor ihm tauchten zwei Wege auf. Beide Wege waren mit dichtem Nebel bedeckt. Während die Stimme die erste Prüfung erklärte, wurden die Worte von Silhouetten am Rande der Wege begleitet. 

"In der ersten Prüfung werden deine Empathie und dein Mitgefühl getestet. Entscheide dich für einen Weg und zeige, wer du bist."

Die Richtung, aus der die Stimme kam, änderte sich. 

"Auf dem linken Weg liegt eine verletzte Person. Du kannst eindeutige Spuren eines wilden Tieres erkennen. Wählst du diesen Weg, kannst du dieser Person helfen und ihr Leben retten. Allerdings gehst du das Risiko ein, selbst verletzt zu werden."

Auf dem linken Weg formte der Nebel einen Baum, an dem eine verletzte Gestalt kauerte. Weiter den Weg herunter konnte man die Form eines Tieres ausmachen. 

"Jedoch wählst du den rechten Weg, kommst du schneller und sicher zu deinem Ziel. Keine Tiere werden dort auf deinem Pfad lauern."

Auf dem rechten Pfad lichtete sich der Nebel und gab freie Sicht auf den Weg.

"Nun entscheide dich und gehe dann deines Weges. Jedoch merke, dass dich weitere Prüfungen erwarten werden."

Luc war erstaunt. Er hatte nicht mit so einer Art von Prüfung gerechnet. Für ihn war die Wahl jedoch einfach. Ohne lange nachzudenken, wählte er den linken Weg. Er hob die verletzte Person auf seine Schultern und ging den Weg entlang. 

Wie die Stimme gemeint hatte, wurde Luc von einem wilden Tier angegriffen. Jedoch stellte dieses, trotz des Verletzten, für ihn kein Problem dar. 

Nachdem er das wilde Tier besiegt hatte, verschwand der Nebel und das Licht. Luc war wieder von absoluter Dunkelheit umgeben. Die Stimme erklang erneut.

"Interessante Wahl. Dann folgt sogleich die nächste Prüfung."

Doch Luc wollte zuerst etwas wissen.

"Habe ich die Prüfung jetzt also bestanden?"

Die Stimme antwortete Ihm:

"In diesen Prüfungen geht es nicht ums bestehen, sondern darum, was du wählst und wie du dich entscheidest. Auch der andere Weg hätte richtig sein können."

"Wie hätte der andere Weg richtig sein können. Das war doch eine Prüfung um mein Mitgefühl zu testen?"

"Hättest du den linken Weg gewählt und hättest aber nicht die Stärke gehabt, das wilde Tier zu besiegen und den Verletzten zu retten, dann wäre der andere Weg der richtige gewesen."

Luc verstand nun, um was es ging. Es wurde nie gesagt, ob der Verletzte auch ohne ihn eine Chance hätte. Allerdings hätte er sich selbst in Gefahr gebracht und den Verletzten ebenfalls, wenn er ohne die Kraft das Tier zu besiegen den linken Weg gewählt hätte.

Mit dem rechten Weg würde er sich selbst schützen und der Verletzte hätte womöglich auch eine Chance ohne ihn gehabt. Langsam dämmerte es ihm, in welche Richtung das ganze hier gehen würde. 

"Ich habe verstanden. Bitte fahre fort mit der nächsten Prüfung."

"Sehr gut. In der nächste Prüfung geht es um deine moralischen Werte."

Erneut tauchten Nebelfiguren auf. Diesmal waren es viel mehr. Einige lagen auf dem Boden, andere wiederum in Betten. Man konnte ihnen allen ansehen, dass sie krank waren. Zwischen den Kranken huschten Ärzte und Helfer hin und her. Auch diesen konnte man ansehen.

"Du stehst vor der Wahl. In deinem Heimatdorf ist eine Krankheit ausgebrochen. Es scheint, dass wenige eine Überlebenschance haben. Allerdings erfährst du, dass es zwei Möglichkeiten gibt, an eine Medizin zu gelangen. Entweder du stellst dich für dein restliches Leben in die Dienste des königlichen Hofarztes und bekommst dafür die Medizin. Die Genesung der Dorfbewohner wäre garantiert. Deine originalen Ziele wirst du so aber nie erreichen können. 

Oder du wählst den Weg und vertraust einem Fremden, welcher die Medizin umsonst stellt und im Gegenzug nichts verlangt. Du könntest weiter deine eigenen Ziele verfolgen. Allerdings ist die Genesung der Dorfbewohner nicht garantiert, da über den Fremden nichts bekannt ist. Wähle deinen Weg."

Luc war verwundert über die Tiefe dieser Prüfungen. Er setzte sich hin. Da er nun wusste, dass die Prüfungen mehr befragten als auf den ersten Blick zu erkennen war. 

Die Vorteile des ersten Weges waren, dass die Dorfbewohner seiner Heimat sicher genesen würden und er ebenfalls in den Diensten des Hofarztes eine gesicherte Zukunft hätte. Allerdings würde er dafür seine eigenen Ziele und seine eigene Freiheit aufgeben. 

Beim zweiten Weg könnte er nach wie vor seinen Zielen nachgehen und es bestehe eine Chance, dass die Dorfbewohner trotzdem geheilt würden. Allerdings ist nun die Frage, ob das Risiko des Verlustes von geliebten Menschen seine eigene Freiheit wert wäre.

Die zweite Prüfung war für Luc deutlich schwerer, als er zuerst dachte. Er ging unruhig auf und ab und wog die verschiedenen Vor- und Nachteile immer wieder gegeneinander auf. Jedoch blieb er nach einiger Zeit stehen und sagte zu sich selbst.

"Was überlege ich eigentlich so lange? Die Antwort sollte eigentlich klar für mich sein."

Er drehte sich um und wählte seinen Weg.