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Kapitel 20: Die dritte Prüfung

Mit fester Stimme sagte Luc: "Ich wähle den ersten Weg. Die Rettung der Menschen meines Heimatdorfes hat für mich Priorität gegenüber meinen eigentlichen Zielen. Und vielleicht entdecke ich auch neue Ziele in meinem Leben."

Die Nebelfiguren verschwanden erneut. Es tauchte wieder das Licht des Hüters auf.

"Interessante Wahl."

Die Stimme verstummte. Es dauerte eine Weile, bis sie wieder erklang und Luc über die letzte Prüfung informierte.

"Ich habe nun eine erste Ahnung wer du bist und wie du dich verhältst. Mit der letzten Prüfung werde ich nun alles entscheiden."

Hinter dem Licht wurde ein Raum sichtbar. In dem Raum befanden sich sechs verschiedene Pulte, auf denen jeweils ein Buch lag. Sie standen in einem Halbkreis in der Raummitte.

"In deiner letzten Prüfung geht es um den Umgang mit Wissen. Stell dir folgendes Ereignis dar. Ein kleines Reich wird von einem König regiert. Er ist weder ein schlechter noch ein guter König. Der König hat allerdings eine Widersacher, der der Meinung ist, dass er ein besserer König wäre. 

Eines Tages wird die Stadt des Königs angegriffen und ihm stehen zwei Möglichkeiten zur Auswahl, mit diesem Angriff umzugehen.

In den sechs Büchern vor dir findest du Berichte von beiden Varianten. Jeweils vom König, von seinem Widersacher und aus der Sicht eines einfachen Fußsoldaten.

Nimm dir die Zeit und ließ alle Berichte gut durch. Denn ich möchte zum Schluss von dir wissen, welche die Richtige Entscheidung für den König gewesen wäre."

Das Licht des Hüters verblasste und Luc stand alleine in dem Raum. Er trat an das erste Pult ran. Es enthielt die Geschichte des Königs.

"Am heutigen Tage bin ich mit meiner Armee ausgeritten, um den Feind unseres Reiches abzuwehren. Ich ritt voran mit meinem erhobenem Schwert und glänzender Rüstung. Meine Männer folgten mir in die Schlacht. Wir kehrten siegreich zurück. Die gefallenen Männer waren ein nötiges Opfer, um unser Reich gegen barbarische Eindringlinge zu verteidigen. Ihr heldenhafter Kampf wird in die Geschichten der Barden eingehen."

Luc legte das Buch wieder auf das Pult und trat zum nächsten. Die Bücher schienen alle im selben Einband eingefasst zu sein. Er klappte es auf und las.

"Am heutigen Tag ist unser König mit unseren Männern ausgeritten, um einen Feind abzuwehren. Mit seiner glänzenden Rüstung und seinem polierten Schwert hat er unsere Männer in den Tod geführt. Es hätte auch die Möglichkeit gegeben, unser Reich innerhalb der Mauern der Stadt zu verteidigen. Keiner wird sich an die gefallenen Männer erinnern, außer ihre Familien."

Luc erkannte, dass dies wohl das Buch des Widersachers war. Er legte es behutsam wieder auf sein Pult und schlug das nächste auf.

"Am heutigen Tage bin ich dem Befehl meines Königs gefolgt und bin ausgeritten, um einen Feind unseres Reiches abzuwehren. Unser König hat uns angeführt. Mit erhobenem Schwert hat er uns in die Schlacht geführt. Viele Männer sind während der Schlacht gefallen. Der Schmerz ihres Verlustes sitzt tief in jedem von uns. Allerdings können unsere Familien nun wieder in Sicherheit leben."

Luc legte das Buch beiseite. Er hatte nun alle Sichten der Ersten Möglichkeit gelesen und verstand ihre Nachteile und Vorteile. Da er wusste, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb, diese Prüfung abzuschließen, las er direkt weiter. Es war erneut die Sicht des Königs.

"Am heutigen Tage wurde unsere Stadt angegriffen. Heldenhaft haben meine Soldaten die Stadt unter meinem Befehl verteidigt. Trotz der Länge der Belagerung und der knappen Ressourcen in unseren Speichern gingen wir siegreich hervor. Unsere Ahnen werden noch von diesen Tagen erzählen und jegliche Barbaren werden es sich ein zweites Mal überlegen, uns anzugreifen."

Auch hier merkte Luc, dass das Ereignis erneut als voller Erfolg dargestellt wurde und ebenfalls den König sich in gutem Licht darstellte.

"Am heutigen Tage wurde unsere Stadt angegriffen. Unser König hat sich in seiner Burg zurückgezogen und seinem Volk die Verteidigung und die Folgen überlassen. Es gab eine Hungersnot, da unsere Speicher nicht genug gefüllt waren. Die Toten hielten sich in Grenzen, allerdings war es eine unangenehme Zeit. Trotz des Erfolgs der Verteidigung, wäre es besser gewesen, wenn der König sich bewegt hätte und einen Frontalangriff angeleitet hätte."

Luc erkannte nun das Muster der Sichten und verstand auf was der Hüter hinaus wollte. Auch wenn er sich den Inhalt bereits denken konnte, wollte er die zweite Sicht des Soldaten noch lesen.

"Am heutigen Tage wurde unsere Stadt angegriffen. Wir bekamen den Befehl, die Stadt innerhalb der Mauern zu verteidigen. Die Belagerung dauerte lange und unsere Ressourcen waren knapp. Wir überstanden die Zeit mit unseren Familien und Kameraden. Es war nicht leicht. Aber unsere Familien sind nun sicher und es werden bald bessere Zeiten folgen."

Luc setzte sich auf den Boden. Er hatte nun alle Bücher gelesen und verstand, warum ihm diese Frage gestellt wurde. Selbst wenn es oftmals mehrere Lösungen gibt, hat jede Lösung seine Vorteile und Nachteile. Auch sieht jeder die gewählte Lösung anders und in der Form, wie er sie sehen möchte.

Auch im Nachhinein, weiß man natürlich immer mehr als vorher und würde danach eventuell eine andere Richtung wählen.

Nach einiger Zeit tauchte das Licht des Hüters wieder auf.

"Deine Zeit ist leider um. Ich brauche jetzt eine Antwort von dir. Wie ich sehe, hast du alle Bücher gelesen. Welche ist also die richtige Lösung gewesen?"

Luc stand wieder auf und richtete seinen Blick auf den Hüter. Mit fester Stimme antwortete er:

"Keine der Beiden ist die Richtige. Aber ebenfalls ist keine der beiden Wahlen falsch."

Mit einem neugierigen Ton fragte die Stimme:

"Oho, wie kommst du darauf?"

"Ich bin der Meinung, dass beide Wege ihre Probleme haben. Der direkte Angriff bringt Verluste mit sich, allerdings ist er dafür schnell und sorgt nicht für andere Probleme. Die Verteidigung wiederum ist sicherer, hat aber zur Folge, dass Rationen- und Ressourcenmangel entstehen. 

Für den König wären alle Lösungen richtig, solange sie erfolgreich sind. Auch für den Widersacher wäre die Wahl des Königs egal gewesen, da er immer einen Weg finden würde, den König schlecht dastehen zu lassen. Und dem einfachen Soldaten geht es nur darum, dass seine Heimat und Familie in Sicherheit ist. Auch wenn dies mit dem Verlust seines eigenen Lebens oder einer schlechten Zeit einhergehen würde."

Die Stimme brach in Gelächter aus. Luc verstand nicht, was an seiner Antwort so lustig war.

"Du bist der Erste, der meine dritte Prüfung auf diese Art beantwortet hat. Aber ich mag deine Herangehensweise. Ich muss gestehen, du gefällst mir."

Das Licht kam näher an Luc heran. Es schwebte direkt vor seinen Augen, doch seine Hand glitt direkt durch es hindurch. 

"Damit übergebe ich dir die Rolle des Beschützers dieses Waldes und seines Wissens. Bewahre es gut."

Mit einem Mal lüftete sich die Dunkelheit und Luc konnte erkennen, wo er sich befand. Ihm stiegen Tränen in die Augen. Er hätte nicht gedacht, diesen Ort jemals wieder zu sehen.