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Das Abyss

Die Mensa ist in Trümmern. Zerstörte Überreste von Tischen und Stühlen liegen verstreut über dem Boden.

Inmitten der Trümmer steht ein junger Mann. Sein braunes Haar ist verfilzt, seine Stirn schweißbedeckt, doch seine rot glühenden Augen brennen mit einer Intensität, die ungebrochen scheint. 

Sein linker Arm hängt schlaff an seiner Seite, ein blutiges, verstümmeltes Wrack.

Dunkles Blut sickert durch seinen zerrissenen Umhang, tropft in regelmäßigen Abständen auf den Boden und sammelt sich in einer kleinen Lache, die sein entschlossenes Gesicht spiegelt.

Trotz der Schmerzen steht Ravyn aufrecht, seine Haltung zeugt von einer Mischung aus Stolz und Verzweiflung.

Sein Blick schweift über die Szene. 

Kael stützt den verletzten Samir, dessen Gesicht vor Anstrengung gezeichnet ist. Samirs Brust hebt und senkt sich mühsam, und selbst mit Kaels Hilfe scheint er kaum in der Lage, auf den Beinen zu bleiben. 

Die Überanspruchung seines Stigmata hat ihn fast gebrochen. Die Gravitation in der Mensa ist zurück zu ihrem Ursprungszustand.

Seren liegt am Boden, ihre weißblonden Haare kleben an ihrer Stirn, Blut und Staub bedecken ihre Uniform. Neben ihr liegen die Brüder Kieran und Finn, ihre Körper schlaff, aber noch atmend.

Ravyn sieht sie an, nur einen Moment lang, bevor sein Blick wieder auf die zerstörte Tür und die staubbedeckten Überreste des Raumes zurückkehrt.

Ein unnatürliches Summen bricht die Stille, durchdringt die Luft mit einer Schärfe, die alle Blicke wieder zu Ravyn zieht.

Es beginnt leise, ein sanftes Vibrieren, doch es wächst schnell zu einem knisternden, elektrisierenden Geräusch heran, als ob die Realität selbst nicht mehr in der Lage wäre, seiner Präsenz standzuhalten.

Schatten strömen aus Ravyns Körper, fließen wie schwarzer Rauch um ihn herum, drehen sich in spiralförmigen Bewegungen, bevor sie sich in der Luft über ihm verdichten.

Das Summen erreicht seinen Höhepunkt, und dann geschieht es. Ein Riss, schimmernd und pulsierend, öffnet sich hinter ihm. Der Riss ist dunkel, ein Nichts, das in der Welt klafft und die Essenz des Abyss ausströmen lässt.

Die Temperatur im Raum sinkt augenblicklich, und eine kalte, klamme Luft breitet sich aus. Der Atem aller, die noch bei Bewusstsein sind, formt kleine Wolken in der eisigen Kälte.

Kael zieht Samir näher zu sich heran, seine Augen weiten sich leicht. "Ein Leerenbruch," flüstert er, seine Stimme kaum hörbar.

Ravyn steht vor dem Portal, sein Schatten scheint sich mit dem Riss zu verbinden, seine rot glühenden Augen leuchten intensiver. 

Die Energie des Abyss umhüllt ihn wie ein Mantel. Er dreht sich halb um, wirft einen letzten Blick auf die zerstörte Mensa und die Menschen darin.

Kein Wort, kein Abschied. Seine Augen ruhen einen Moment länger auf Seren und der Leiche von Lumen, bevor er einen Schritt zurück in das Portal macht.

Die Schatten verschlingen ihn, und mit einem letzten, ohrenbetäubenden Knall schließt sich der Riss. 

Das Echo des Knalls hallt noch lange nach, bevor die unheimliche Stille zurückkehrt. 

Der Raum ist wieder still, doch die Kälte bleibt.

Die Luft um Ravyn ändert sich schlagartig. Sie ist dichter, schwerer, voller Essenz, die wie ein unsichtbares Netz alles durchdringt.

Er spürt wie sein geschwächter Körper an Energie gewinnt.

Ein Gefühl der Erleichterung macht sich in Ravyn breit. 

Er steht auf einem dunklen Felsvorsprung, der über eine schier endlose Ebene aus Schatten und Licht ragt.

Der Himmel ist ein gewaltiges, pulsierendes Rot-Schwarz, durchzogen von goldenen Rissen, aus denen Essenz wie flüssiges Feuer strömt. 

Unter ihm erstreckt sich ein großes Tal. Es ist fast 100 Meter tief und Tausende Meter lang. 

In diesem Tal liegt das Dorf リꖌᒷꖎ⍑ᒷ╎ℸ. 

Zwischen den kleineren Gebäuden einzelner Bewohner, welche nach Standards der Erde altmodisch sind, sind große Spitzen aus kristallisierter Essenz zu finden, die bis zu 30 Meter in die Höhe ragen. 

Flüsse aus reiner Energie winden sich durch das Land, hell leuchtend und gefährlich. 

Die Geräusche des Abyss sind unheimlich vertraut. Ein tiefes, ständiges Summen erfüllt die Luft, durchzogen von gelegentlichen Schreien und dem Knirschen von Essenz, die sich neu formt. 

Schatten huschen am Rand seines Blickfelds vorbei, formen sich zu schemenhaften Gestalten, die ihn stumm beobachten. 

Er steigt langsam das Tal hinab, ein künstlich erschaffener Weg bietet ihm halt, seine Stiefel schlagen auf den rauen, düsteren Boden.

Die goldene Risse am Himmel geben Ravyn Kraft.

Ravyn liegt auf einer einfachen Liege im Haus von Sylvorn, dem Dorfältesten.

Der Raum ist klein, die Wände aus dunklem Holz und mit feinen Mustern aus Essenzkristallen verziert. 

Die Luft ist erfüllt von einem sanften Duft, einer Mischung aus Kräutern und frischer Energie, die von Sylvorns Naturmagie ausgeht.

Ravyns Körper ist entspannt, doch in seinem Geist herrscht Aufruhr. Sein linker Arm, der verstümmelt und blutend im Kampf zurückgeblieben war, wächst langsam nach. 

Das Prickeln, das die Magie hinterlässt, ist seltsam angenehm, ein Kontrast zu den Schmerzen, die er zuvor gespürt hat.

"Junge, was hast du in der Menschenwelt angestellt?" Sylvorns Stimme ist ruhig, fast väterlich, doch sie trägt eine Schärfe, die Ravyn nicht entgeht.

Ravyn öffnet die Augen, blickt zu dem alten Mann, dessen silbernes Haar in der gedämpften Beleuchtung fast leuchtet. 

"Ich habe jemanden gefunden," beginnt Ravyn, seine Stimme leise, aber fest. "Einen Menschen, der einen Pakt mit Aureth geschlossen hat."

Sylvorns Augen weiten sich leicht, doch er unterbricht Ravyn nicht.

"Er konnte seine Kräfte nicht kontrollieren," fährt Ravyn fort. "Er war schwach… doch es gab zwei, nein drei Krieger gegen die ich kämpfte"

Er tritt näher, legt eine warme, raue Hand auf Ravyns Schulter. Die Berührung ist beruhigend, doch die Worte, die folgen, sind alles andere als leicht. 

"Es ist nicht deine Schuld, dass du so denkst, Ravyn. Vielleicht bin ich schuld daran, dass du die Menschen so verachtest. Ich habe versagt, dich richtig zu führen." 

Ravyn runzelt die Stirn, verwirrt von der plötzlichen Wendung. 

"Was sagst du da, Sylvorn? Du hast doch selbst gewollt, dass ich in die Menschenwelt gehe." 

"Ja," gibt Sylvorn zu, ein trauriges Lächeln auf seinen Lippen. 

"Aber ich wollte, dass du sie verstehst. Ihre Kultur, ihre Gebräuche, ihre Stärke und ihre Schwächen. 

Ich wollte nicht, dass du sie bekämpfst. Dein Vater... er war schlauer als ich. Er hat erkannt, dass nicht alle Menschen schlecht sind."

"Mein Vater..." Ravyn beginnt, doch Sylvorn hebt die Hand, gebietet ihm zu schweigen.

"Hör mir zu, Kind," sagt der Älteste sanft, doch mit Nachdruck.

"Was geschehen ist, kannst du nicht ungeschehen machen. Aber es gibt noch eine Möglichkeit, deinen Weg zu korrigieren. Erhole dich und kehre zurück zur Erde."

Ravyns Augen weiten sich vor Überraschung, seine Stimme wird hell. "Was?"

Sylvorn bleibt ruhig, doch sein Blick ist durchdringend. "Ich möchte, dass du zur Akademie Sanctum Arcanum gehst. Während du fort warst, hat deine Schwester mir eine Nachricht geschickt."

"Meine... Schwester?" Ravyns Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern, Unglaube und Neugier mischen sich in seinen Ton.

"Ja," sagt Sylvorn mit einem ernsten Nicken. "Nach dem Leerenbruch wurde sie in die Nähe der Stadt Arcanum gebracht. Sie lebt seit zwei Jahren unter den Menschen. Im Gegensatz zu dir kann sie nicht so einfach zurückkehren."

Ravyn schließt die Augen, die Worte treffen ihn wie ein Schlag. Die Schwester, die er verloren glaubte, lebt – inmitten derer, die er verachtet. Eine Welle aus Zorn, Schmerz und Hoffnung durchflutet ihn.

"Wenn du sie wiedersehen willst," fährt Sylvorn fort, "geh zur Akademie. Finde heraus, was aus ihr geworden ist."

Ravyn liegt schweigend da, seine Gedanken ein Sturm. Der Duft der Kräuter, das Prickeln seines Armes, die ruhigen Worte Sylvorns – alles verblasst vor dem Konflikt, der in ihm tobt. Doch tief in seinem Inneren weiß er, dass Sylvorn recht hat.

"Die Akademie..." murmelt Ravyn schließlich.