Unmöglich sofort eine Entscheidung zu treffen, kniete der Auserwählte am Rande eines schier endlosen Universums. Nur dieses Mal nicht aus Schwäche, sondern aus Ratlosigkeit.
„Ich fühle mich geehrt, euer Ehren. Das bin ich wirklich."
Simon begann den Satz mit einem verzweifelten Grinsen auf der Wange, während er nun voller Ehrerbietung eine Hand auf den Schoß und die andere hinter seinen Rücken klemmte.
„Ich weiß, dass ich die Möglichkeit hätte alles wiederzuerlangen, was mir geraubt wurde. Aber…bin ich wirklich der Richtige dafür? Ich meine, sämtliche Ziele, die ich in meinem Leben je erreichen wollte, sämtliche Pläne sind kolossal gescheitert und ich…trage die volle Verantwortung. Wie könnt Ihr Euch sicher sein, dass ich jetzt nicht wieder versagen werde?"
„Zunächst würde ich dich bitten, mit diesem königlichen Geschwurbel aufzuhören. Ich bin lediglich ein Stellvertreter und schon gar nicht bedeutsam für diese Welt. Respekt ist gut, dein Prinzengeschwafel verfälscht hingegen meinen positiven Eindruck von dir."
Somos blieb streng in seiner lockeren Geisteshaltung, wodurch sich Simon gezwungen war, all seine gelernten Manieren auszublenden und das Königsdenken einzustellen.
„Es tut mir leid Somos, aber meine Einstellung bleibt die Gleiche. Ich fühle mich geehrt, aber nicht dazu bereit, dem Luminos die Treue zu schwören. Ich werde dich erneut enttäuschen, da bin ich mir sicher."
„Du verstehst es einfach nicht, egoistisches Balg. Es geht hier nicht nur um dich und deine Angst zu scheitern. Vor, hinter und neben dir liegt eine Welt außerhalb deiner Sinneswahrnehmungen, die langsam beginnt zu sterben. Die hell erstrahlenden Lichter, die Sterne hier, sind nicht nur bloßes Beiwerk, nicht nur ein wahlloses Mittel zum Zweck. Auch sie glaubten damals an eine Zukunft der Hoffnung. Und genau deswegen entschieden sich all diese treuen Seelen hier nach ihrem Tod als Wegweiser weiterzuleben. Dank ihnen gibt es diesen Almaturm überhaupt noch. Dank ihnen leuchten nachts auf der Erde Kompasse am Himmelszelt, die euch undankbaren Menschen das Licht in der Dunkelheit schenken. Du versuchst mit deinem ignoranten Geschwätz sämtliche Opfer zu degradieren, die das Luminos mit Hoffnung erfüllen! Sie bilden die Brücke für die Kluften, die auf der Erde entstanden sind."
„Entschuldige. Das war nicht so gemeint."
Selbst Somos wirkte nervös und uneins in seiner Ideologie als heiliges Symbol.
„…Diese wunderschönen Lichter beginnen zu erlischen. Ich möchte das nicht noch länger mitansehen. Deshalb brauchen wir dich, Simon. Als junger Mensch, der den Schmerz überwunden hat und der mit offenen Augen uns das zurückbringen wird, was ich nicht konnte. Neue Hoffnung für eine neue Zukunft. Kleiner Mann, du musst meinen Platz einnehmen. Die Welt braucht eine neue Stimme. Das Luminos braucht eine neue Stimme. Und diese Stimme, der Stellvertreter Gottes sollst du sein, werter Auserwählter des Lichts."
„Somos!",
Simon eilte mit einem Hechtsprung aus dem Knie heraus und drückte ihm eine rethorische Frage auf, als wolle er den weißen Halbgott vom Gegenteil überzeugen,
„bist du dir wirklich sicher, dass es keinen anderen gibt, der-"
„Ich habe versagt, Simon."
In Somos Gesicht bahnte sich die Verzweiflung längst vergessener Zeiten an.
„Bereits vor so vielen von Jahren konnte ich meine Versprechen nicht erfüllen. Und nun ist es zu spät. Mittlerweile bin ich viel zu alt geworden, um etwas ändern zu können. Den Almaturm kann ich nicht mehr eigenhändig verlassen. Ich degradiere einzig und allein zu einem Aushängeschild. Bitte, erlöse das Luminos von dieser Schmach."
Er streckte dem nun aufrechtstehenden Prinzen die Hand aus und wartete auf dessen Zuspruch.
Simon versuchte indes kühl zu bleiben und die Situation genauestens zu analysieren.
„Ich denke du verstehst mich, wenn ich sage, dass es schwer für mich ist, all das in seiner Gänze zu akzeptieren. Ich meine, vor kurzem hatte ich mit mir selbst bereits abgeschlossen…und auf einmal schenkst du mir die Möglichkeit, die Rechte Hand eines Gottes zu sein.
Auf der anderen Seite warst du es, der mich umgebracht und mir alles genommen hat, was ich liebte… Und dafür hasse ich dich. Ich hasse dich so sehr für dieses Leid, dass du mir und meinem Volk angetan hast."
Es fiel ihm schwer diese Worte über die Lippen zu bringen, schließlich betete er jeden Tag aus Überzeugung eben jene Gotteswesen an. Dennoch blieb Simon erstaunlich ruhig bei seiner Standpauke, konnte er wohl die Not von Somos eindeutig begreifen.
Es blieb einen Moment absolut still, bevor einer der beiden entschlossen eine endgültige Entscheidung traf.
„Falls ich deinen Platz übernehmen sollte, wie sollte ich verstehen, was es braucht, um dem Luminos gerecht zu werden? Du hast es selbst gesagt. Das Luminos ist außerhalb meiner Reichweite. Ich allein kann seine Macht nicht begreifen.
„Du verstehst es immer noch nicht." Simon verstand die Enttäuschung nicht, die sich in Somos Gesicht breit gemacht hatte.
„Du hast jeden Tag dafür gebetet, deinen Wolkenmann zu übertrumpfen, ihn abzulösen, indem du der Gott auf Erden wirst. Das war doch dein ehrgeiziges Ziel. Der beste König Allerzeiten. Das wolltest du werden. Simon, ist dieser Ehrgeiz mit dir gestorben?"
Der Königsanwärter wusste nicht genau, wie er darauf antworten sollte, schließlich kämpfte er sich Widerwillen den Weg nach oben, um ein neues Abenteuer anzutreten. Letzten Endes fasste er sich an sein Herz, beendete die Ausflüchte und erfüllte zielstrebig seine zugewiesene Rolle.
„Danke Somos, für dein entgegengebrachtes Vertrauen. Es ist mein innigster Wunsch dieser Schuld gegenüber meinem Volk und meinem Gott gerecht zu werden. Zeige mir den Weg, bitte."
Somos wirkte erleichert, als würden tausende Felsbrocken von seinem Herzen fallen. Seine Angespanntheit verformte sich nun zu angemessener Schlaksigkeit.
„Bist du endlich über deinen Schatten gesprungen." Er fasste sich hinter den Kopf und stieß ein befreiendes Lachen aus.
„Ich kann dir gar nicht genug danken. Ehrlich. Ohne deine Aufopferung würde es diese Welt bald nicht mehr geben. Als Anerkennung werde ich dir einen kurzen Einblick geben, was in den Tagen nach deinem Ableben bei dir Zuhause alles geschah. Betrachte es als Geschenk, auch wenn du es wahrscheinlich nicht so sehen wirst."
Somos und Simon beschritten folglich die Sternenbrücke des Luminos. Vor ihnen befand sich vollkommene Leere, doch flogen Stück für Stück einzelne Sternenfragmente in das Bild eines leuchtenden Trampelpfades, auf dessen Wegen die Beiden ihrem nächsten Ziel folgten. Links und rechts kamen in den Dunkeln des Meeres Bilder zum Vorschein, die sich während Simons Ableben auf der Welt ereignet hatten.
„Wie du erkennen kannst, waren die Einwohner deiner Hauptstadt sehr unzufrieden mit der dortigen Situation", führte Somos an. Naja, irgendwie auch verständlich, schließlich ging ein Großteil deiner Bevölkerung bei dieser „Naturkatastrophe" Zugrunde. Viele Familien wurden wortwörtlich gespalten, viele Träume verblassten in dieser Nacht. Die meisten dieser Hoffnungen versammelten sich letztlich hier im Almaturm. Seit Beginn der Menschheitsgeschichte treffen sich hier die Seelen der Toten. Sozusagen betreiben wir einen unendlichen Familienbetrieb."
Simon war verwundert. „Ich dachte das wäre der einzige Ort, an den Seelen einkehren können?", fragte der Prinzenjunge wissbegierig nach.
„Nicht direkt, nein. Eine Seele, die nicht den Weg über die Himmelsstraße geht, bleibt als willenloses Geschöpf in Lumia-Loft zurück. Das kommt vor, wenn beispielsweise eine Person mit sich selbst so stark im Zwiespalt ist, dass sie keinen Sinn mehr in ihrer Zukunft sieht."
„Also kann niemand im Almaturm ankommen, der sich seinem Glauben abgesprochen hat?" „Das stimmt so auch nicht", deutete der weißgraue Gottesverschnitt an, „solange ein Mensch in die Zukunft blicken kann, sei es aus Eigennutz oder der Allgemeinheit geschuldet, findet er auch seinen Weg hierher. Eure Religionen sind menschliche Erfindungen. Sie interessieren uns hier oben nicht."
„Das möchte ich nicht glauben", stieß Simon mahnend an, „alleine wegen meinem Glauben habe ich es doch bis zum Luminos geschafft. Wie willst du mir das erklären?"
„Ihr betet nicht für uns, sondern für euch selbst. Es gibt euch Kraft und Hoffnung für die Zukunft. Wegen dieser abgeschöpften Kraft bis du soweit gekommen. Alleine das genügt, um die Himmelsstraße zu durchqueren und hier anzukommen."
Simon verhielt sich stur und wollte das nicht verstehen. Allerdings blieb ihm nichts Anderes übrig, als mit offenen Ohren zuzuhören. So, wie er es schon immer tat...
Der Mann in weiß grau gekleidet kehrte zurück zu seinem Wort und begann erneut die nächste Tirade anzuspielen.
„Jedenfalls konnten wir seit dem großen Erdrutsch erkennen, dass viele Seelen in die Tiefen des Schlunds gezogen wurden, kurz nachdem auch sie aus dem Leben gerissen wurden." Somos hielt einen Moment inne.
„Wir wissen auch, dass dein Vater, König Erhard, ebenfalls vor wenigen Wochen das Zeitliche segnete. Seine Seele konnten wir seitdem nicht ausfindig machen..."
Simon verweilte in einem atemlosen Schockzustand und wusste nicht so recht, wie er mit der Situation umzugehen hatte.
„W-Wie konnte das passieren? Er ist doch der m-mächtigste und unerschrockenste Krieger im ganzen Land!
Und...was ist mit m-meiner Mutter? Geht es ihr gut? Bitte, ich will es wissen!"
Die Fassungslosigkeit stand förmlich in seinem Gesicht geschrieben. Somos suchte indes einen deeskalierenden mitfühlenden Satzanfang, fand aber keinen.
„Nun… da dein Vater die Himmelsstraße nie durchquerte, können wir nur davon ausgehen, dass auch er in die endlose Erde gezogen wurde. Sein tatsächlicher Todesgrund bleibt leider unbekannt.
Was deine Mutter angeht…"
Stille machte sich breit.
„Sieh bitte selbst."