Die Tage nach dem Vorfall in der Bibliothek vergingen in einer merkwürdigen Mischung aus Unruhe und Spannung. Amaya konnte den Blick nicht mehr abschütteln, den Jackson ihr in der Bibliothek zugeworfen hatte, und der Moment, als er sich so nah an sie heranbeugt hatte, schien sich in ihre Haut eingebrannt zu haben. Es war, als ob ein unsichtbares Band zwischen ihnen existierte, das sie mit jeder Sekunde, die verstrich, enger zusammenzog. Doch was auch immer das gewesen war – eine Herausforderung, eine Manipulation oder vielleicht ein Spiel – es ließ sie nicht los. Und das Schlimmste daran war, dass sie nicht wusste, was sie wirklich darüber dachte.
Amaya versuchte, sich zu konzentrieren. Sie hatte ein großes Projekt für den nächsten Tag, und der Gedanke an Jackson und die plötzliche, unerklärliche Nähe zwischen ihnen war fast unerträglich. Sie schob den Gedanken beiseite und stürzte sich in ihre Arbeit. Doch in der Dunkelheit ihrer eigenen Gedanken, wenn sie nachts allein in ihrem Zimmer lag, fanden die Erinnerungen an diesen einen Moment immer wieder ihren Weg zurück zu ihr.
Eines Abends, als sie nach einem langen Tag in der Akademie auf dem Weg zur Bibliothek war, stolperte sie fast über ihre eigenen Füße, als sie ihn wieder sah. Jackson. Er stand an einem Fenster in der Nähe des großen Treppenaufgangs, das Licht der untergehenden Sonne ließ seine Silhouette in einem goldenen Schimmer erscheinen, fast wie eine Erscheinung. Für einen Augenblick konnte Amaya einfach nur den Atem anhalten und beobachten, wie er in die Ferne starrte.
Er schien nicht bemerkt zu haben, dass sie näherkam. Sie trat langsam näher, unsicher, ob sie ihn ansprechen oder einfach weitergehen sollte. Ihre Füße schienen wie von selbst zu bewegen, als würde sie von einer unsichtbaren Kraft gezogen. Doch gerade als sie fast an ihm vorbeigegangen war, drehte er sich um.
„Amaya", sagte er, und seine Stimme war fast wie ein Flüstern, das von der kühlen Luft getragen wurde. „Bist du hier für das Projekt?"
Sie blieb abrupt stehen und sah ihn an. Seine Augen waren nicht die gleichen wie vorher – sie waren ruhiger, fast nachdenklicher. Der spöttische, arrogante Ausdruck war verschwunden, und stattdessen war da nur ein Hauch von etwas anderem, etwas, das sie nicht ganz begreifen konnte. Für einen Moment stand die Welt still.
„Ja", antwortete sie, ihre Stimme klang seltsam unsicher. Sie hasste sich dafür, doch sie konnte sich nicht von ihm abwenden, konnte nicht einfach so tun, als ob nichts passiert wäre. „Ich wollte noch etwas lesen."
„Worum geht es bei deinem Projekt?", fragte er und trat einen Schritt auf sie zu. Es war eine einfache Frage, aber der Tonfall, mit dem er sie stellte, ließ Amaya fast zusammenzucken. Er hatte sie immer nur als Rivalin gesehen, nie als jemanden, mit dem er auf dieser Ebene sprechen konnte. Doch jetzt war alles anders. Ihr Herz schlug schneller, als sie ihm antwortete.
„Es geht um die Verbindung zwischen den magischen Energien der Elemente", erklärte sie, ohne sich wirklich sicher zu sein, warum sie es ihm überhaupt erzählte. „Ich versuche herauszufinden, wie man die Energie eines einzelnen Elements kontrollieren kann, ohne die anderen zu stören."
Jackson nickte, und in seinen Augen flackerte ein Funken von Interesse auf. Es war das erste Mal, dass sie wirklich das Gefühl hatte, dass er ihre Fähigkeiten ernst nahm, dass er sie nicht nur als irgendeine Widersacherin betrachtete, die er niederzwingen musste.
„Interessant", murmelte er, und ein kleines, beinahe unmerkliches Lächeln huschte über sein Gesicht. „Vielleicht könntest du mir mehr darüber erzählen, wenn du möchtest."
Amaya wusste, dass er mit dieser Einladung mehr meinte als nur ein harmloses Gespräch. Doch irgendwie war sie auch nicht in der Lage, sich von ihm abzuwenden. Etwas an ihm zog sie an – und das war etwas, das sie sich selbst nicht erklären konnte.
„Vielleicht...", begann sie, unsicher, was sie sagen sollte. Doch sie wurde unterbrochen, als Jackson einen Schritt nähertrat.
„Vielleicht", wiederholte er mit einem schiefen Lächeln. Doch bevor sie etwas erwidern konnte, ergriff er ihre Hand – nicht fest, aber bestimmt, als wollte er sie aufhalten.
„Jackson...", begann sie, doch ihre Worte verstummten, als sie den Ausdruck in seinen Augen sah. In diesem Moment war alles still, und es war nur noch der Herzschlag, der in ihren Ohren pochte. Amaya konnte kaum glauben, was sie fühlte, was in ihr vorging.
Er trat noch einen Schritt näher, und seine Hand berührte sanft ihr Kinn, seine Finger strichen über ihre Haut, bevor er vorsichtig ihre Augen suchte. „Amaya", sagte er leise, fast wie ein Befehl. Doch es war nicht hart, nicht herausfordernd. Es war etwas anderes, etwas, das sie in ihren Träumen nie erwartet hätte.
Und dann – in einem Augenblick der völligen Unentschlossenheit – beugte er sich vor. Sie sahen sich an, und alles um sie herum verschwamm. Die Welt, die Akademie, ihre Rivalität, alles, was sie je über ihn geglaubt hatte, verlor an Bedeutung. Nur noch dieser Moment, dieser Atemzug, zählte. Ihre Blicke trafen sich, und ohne zu wissen, was sie tat, schloss Amaya die Augen.
Und dann küsste er sie.
Der Kuss war unerwartet – warm und intensiv, als würde er all die Gefühle, die in ihnen beiden brodelten, in einem einzigen Moment ausdrücken. Für einen Augenblick war alles, was Amaya wusste, der vertraute, unerklärliche Druck von Jacksons Lippen auf ihren. Es war, als ob die ganze Welt stillstand, als ob nur sie beide existierten.
Doch der Kuss war nicht lang, nur ein flüchtiger Moment, der genauso schnell wieder verschwand, wie er gekommen war. Jackson zog sich sofort zurück, seine Augen waren auf ihren fixiert, als er versuchte, eine Reaktion von ihr zu lesen.
„Was… was war das?", flüsterte Amaya, und ihre Stimme zitterte, als sie den Abstand zwischen ihnen fühlte, der plötzlich so gewaltig schien.
Jackson sah sie an, als hätte er gerade einen Fehler gemacht, doch er sagte nichts. Die Stille zwischen ihnen war drückend, schwer von unausgesprochenen Worten und Gefühlen, die noch nicht bereit waren, sich zu entladen.
„Ich...", begann er, doch Amaya hielt die Hand hoch, als wollte sie ihn aufhalten. Sie konnte die Worte nicht hören, die er sprechen wollte, nicht in diesem Moment. Sie war zu verwirrt, zu verletzt, um zu begreifen, was gerade passiert war.
„Du hast das nicht verdient", sagte sie schließlich, die Worte wie ein Fluch aus ihrem Mund. Sie trat einen Schritt zurück, als sie den Kuss in ihren Gedanken versuchte zu verarbeiten. Doch sie konnte nichts verstehen.
Jackson schwieg, seine Hände fielen langsam an seine Seiten. Dann drehte er sich um und ging wortlos davon, ließ sie allein zurück – mit einem Kuss, der alles verändert hatte und gleichzeitig nichts erklärt hatte.
Amaya stand da, atemlos, ihr Herz raste. Sie wusste, dass das, was gerade geschehen war, mehr als nur ein Fehler war. Aber was es war, konnte sie noch nicht begreifen. Und vielleicht wollte sie es auch gar nicht wissen. Denn die Antwort war ebenso verwirrend wie der Kuss selbst.