Kiyomi konnte kaum glauben, was Akio ihr gerade erzählt hatte. Die Stimme, die ihn dazu gebracht hatte, Kevin zu verletzen, sollte seine eigene gewesen sein? Vielleicht hatte Akio einfach die Worte in seinem Kopf nachgesprochen, dachte sie. Alles andere ergab keinen Sinn. Aber wer soll es ihm dann gesagt haben?
Auf dem Heimweg beschloss Kiyomi, diesen Gedanken beiseite zu schieben. Er war schließlich noch ein Kind. Sie selbst hatte früher ähnliche Gedanken gehabt. Das größere Problem war Akios Wut. Darüber musste sie noch mit ihm sprechen.
Zu Hause angekommen, wollte Kiyomi sofort mit Akio reden, aber er ging mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern direkt in sein Zimmer, ohne ein Wort zu sagen. Sie konnte die Anspannung in seinem Gesicht sehen und machte sich Sorgen.
Akio verstand selbst nicht, was los war. Die Stimme, das Verhalten seiner Mutter, all das machte ihm Angst. Wer hatte seine Mutter geschlagen? Warum hatte sie ihn nicht geschlagen? Er verstand nichts.
Er fühlte sich schlecht. Aber mehr noch dachte er daran, dass es seiner Mutter schlechter gehen musste als ihm – und das alles nur wegen ihm. Er brauchte Zeit, um nachzudenken, und schloss sich in seinem Zimmer ein. War die Stimme wirklich seine eigene?
Kiyomi klopfte an Akios Tür.
Kiyomi: „Akio, hörst du mich?"
Akio: „…"
Kiyomi: „Wir müssen reden."
Akio: „Ich will nicht."
Kiyomi: „Ich auch nicht, aber wir müssen."
Akio: „Dreh dich um und geh."
Kiyomi: „Warum hast du dich eingeschlossen? Ich möchte verstehen, was dich bedrückt."
Akio: „Ich weiß nicht, was meine Gedanken sind. Denke ich richtig?"
Kiyomi: „Es ist normal, wenn deine Gedanken nicht gut sind. Das passiert jedem mal."
Akio: „Woher weißt du das?"
Kiyomi: „Weil ich auch ein Mensch bin, Akio. Ich habe auch Fehler gemacht und manchmal schlechte Gedanken."
Akio: „Du bist nicht wie ich. Du bist meine Mama."
Kiyomi: „Ich bin nicht nur deine Mutter, ich bin auch ein Mensch. Man kann mehr als eine Rolle haben."
Akio: „Was meinst du?"
Kiyomi: „Jeder hat viele Rollen. Deine Mitschüler sind Kinder, Freunde und Schauspieler, alles gleichzeitig."
Akio: „So habe ich das nie verstanden."
Kiyomi: „Und ich bin nicht nur deine Mutter, ich kann auch deine Beraterin sein. Deine Gedanken sind nicht falsch, aber manche Dinge darfst du nicht aussprechen."
Akio: „Was heißt das?"
Kiyomi: „Wenn du gute Gedanken aussprichst, denken andere darüber nach. Böse Gedanken auch."
Akio: „Und dann?"
Kiyomi: „Du trägst Verantwortung für deine Gedanken. Sie können andere beeinflussen."
Akio: „Aber du sagst doch auch böse Dinge!"
Kiyomi: „Wie kommst du darauf?"
Akio: „Du hast diesem Mann gesagt, er verdient keine Hilfe."
Kiyomi: „Das ist eine andere Situation…"
Akio: „Und du hast gesagt, er soll in die Hölle."
Kiyomi: „Es war nicht ganz ehrlich von mir."
Akio: „Warum hast du mich angelogen?"
Kiyomi: „Um dich zu schützen."
Akio: „Du sagst doch, man soll nicht lügen."
Kiyomi: „Ich wollte nur das Beste für dich."
Akio: „Bist du wirklich meine Mutter?" Akio zweifelte. Leise Tränen kamen in seine Augen. Die Unsicherheit ummantelte ihn. Wieso verhielt sie sich so komisch. So eine Mama kannte er nicht.
Kiyomi: „Es tut mir leid, Akio. Ich wollte dir keine Angst machen."
Akio: „Wie kann ich dir noch glauben?"
Kiyomi: „Komm raus, und ich erzähle dir etwas, was nur deine Mutter wissen kann."
Akio: „Hier ist es sicherer."
Kiyomi: „Hast du Angst vor mir?"
Akio: „Ja. Ich weiß nicht mal ob du noch meine Mama bist."
Kiyomi: „Ich weiß, wie es ist, voller Wut zu sein. Ich war früher wie du."
Akio: „Du warst ein 13-jähriger Junge?"
Kiyomi: „Nein, aber ich war auch gewalttätig. Ich möchte nicht, dass du so leidest wie ich."
Akio: „Warum machst du das?"
Kiyomi: „Weil du mein Sohn bist, und ich dich liebe."
Akio: „Das verstehe ich nicht."
Kiyomi: „Das ist der größte Grund von allen. Liebe macht Mutig, weißt du?"
Akio: „Warum bist du nicht wütend?"
Kiyomi: „Weil ich Liebe erfahren habe. Ich wollte sie lange nicht fühlen, weil ich Angst vor ihr hatte. Liebe führt zu mehr Liebe, aber Wut führt auch nur zu mehr Wut. Es ist ein Kreis, der schwer zu durchbrechen ist."
Akio: „Aber ein Kreis hat doch ein Ende?"
Kiyomi: „Das wirst du irgendwann verstehen."
Doch Akio verstand es nicht. Wie konnte seine Mutter nicht wütend sein? Wenn Akio wütend war, schrie er oder schlug zurück. Warum tat sie das nicht? Vielleicht lag es daran, dass sie stärker war als er, dass sie etwas wusste, was er nicht verstand. Es machte ihn noch verwirrter und ließ ihn an sich selbst zweifeln. Warum konnte er nicht so sein? Was fehlte ihm, um diese Ruhe zu finden? Aber Akio wollte seine Mutter nicht enttäuschen. Vielleicht war es genau das, was er fühlen sollte.
Die letzten Wochen der Suspendierung versuchte Akio, sich normal zu verhalten und die Ratschläge seiner Mutter zu beherzigen, bevor er wieder zur Schule ging.
Ich versuche es auch noch einmal.
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