Die Luft im Wald war kühl und klar, der leichte Wind trug den Duft von Erde und frischem Moos mit sich. Die Schüler der Klasse 5 von Frau Wirsing liefen in kleinen Gruppen den schmalen Pfad entlang, das Rascheln ihrer Schritte vermischte sich mit dem Zwitschern der Vögel. Die Stimmung war entspannt, doch in der Luft lag ein Hauch von Melancholie. Es war die letzte gemeinsame Aktivität dieser Klasse, bevor sie sich auf die verschiedenen Schulzweige aufteilten. Der Gedanke daran ließ einige Schüler leise werden, während andere laut lachten, als wollten sie die drohende Veränderung ignorieren.
Frau Wirsing blieb stehen, drehte sich zu ihrer Klasse um und klatschte zweimal in die Hände. „So, meine Lieben, wir machen eine kurze Pause. Nutzt die Gelegenheit, um die Umgebung zu erkunden. Vielleicht werdet ihr heute etwas Neues über euch selbst erfahren."
Die Kinder schauten sich fragend an, einige begannen sofort, ihre Umgebung zu erkunden, während andere skeptisch blieben. „Wie meinst du das, Frau Wirsing?" fragte Auron neugierig, während er sich mit einer Hand durch sein dunkles Haar fuhr.
„Nun", begann die Lehrerin mit einem Lächeln, „heute habt ihr die Möglichkeit, eure Affinitäten zur Umwelt zu entdecken. Jedes von euch hat eine besondere Verbindung zu einem Element – Erde, Wasser, Feuer, Luft oder vielleicht auch etwas ganz anderes. Diese Verbindung ist instinktiv, fast wie ein natürlicher Magnetismus. Manchmal zeigt sie sich subtil, manchmal sehr deutlich."
Ein Raunen ging durch die Gruppe. Einige Kinder begannen sofort, ihre Umgebung mit neuen Augen zu betrachten. Akio war einer der ersten, der sich von der Gruppe löste. Er setzte sich auf einen umgestürzten Baumstamm und ließ seinen Blick über die Wiese schweifen. Es dauerte nicht lange, bis ein kleiner Vogel neugierig zu ihm flatterte und auf seiner Schulter landete. Akio lächelte und bewegte sich nicht, um den Vogel nicht zu verscheuchen.
„Wow, Akio, das ist ja unglaublich!" rief Auron, der in der Nähe stand. „Die Tiere scheinen dich echt zu mögen."
„Ich weiß nicht warum", erwiderte Akio bescheiden, doch sein Lächeln verriet, dass er sich darüber freute. Sophie beobachtete die Szene aus der Ferne und spürte, wie ein kleiner Stich durch ihre Brust ging. Warum schien bei Akio alles so einfach zu sein?
Auron hingegen bemerkte, dass der Wind um ihn herum sich zu verändern schien. Ein leichter Luftzug spielte mit seinen Haaren, und als er sich bewegte, folgte der Wind ihm, als würde er seinen Weg begleiten wollen. „Schaut euch das an!" rief er begeistert, als die Blätter in seiner Nähe aufzuwirbeln begannen, obwohl die Luft sonst still war.
„Das ist echt cool!" rief Lirien, die neben einem Bach kniete. Das Wasser kräuselte sich leicht, als ob es sie begrüßen wollte. „Schaut mal! Das Wasser bewegt sich, obwohl ich es gar nicht berührt habe!" rief sie begeistert. Die anderen Kinder sammelten sich um sie und bewunderten die kleinen Wellen.
Seika stand abseits der Gruppe, ihre Arme verschränkt und ihre Miene von einer Mischung aus Frust und Unbehagen gezeichnet. Während die anderen Kinder ihre Affinitäten entdeckten und freudig darüber plauderten, fühlte Seika… nichts. Zumindest glaubte sie das.
Doch als sie den Blick von Akio und Sophie abwandte, um sich auf den Wald zu konzentrieren, überkam sie ein merkwürdiges Gefühl. Es war, als würde jemand sie beobachten – nicht direkt, aber aus der Peripherie ihrer Wahrnehmung. Ein sanfter Druck legte sich um ihren Hals, wie eine Hand, die nicht fest zupackt, sondern nur da ist, kaum spürbar.
„Was zum…?" murmelte sie leise und rieb sich den Hals, doch das Gefühl verschwand nicht. Sie schloss die Augen und atmete tief ein. Je mehr sie versuchte, sich auf die Empfindung zu konzentrieren, desto stärker wurde das seltsame Bewusstsein. Es war, als hätte sie plötzlich Zugang zu einer anderen Ebene – ein Blick hinter die Kulissen der Welt.
Die Schatten um sie herum schienen zu flüstern, nicht mit Worten, sondern mit Eindrücken. Seika fühlte, dass die Welt nicht immer das war, was sie vorgab zu sein. Sie sah kleine Details, die ihr vorher entgangen waren: das unruhige Zucken eines Blattes, das sonst still schien, oder das fast unmerkliche Zittern eines Baumstamms, als wäre er lebendig. Es war, als würden die Schatten ihr die Wahrheit zeigen – nicht die offensichtliche, sondern die, die sich hinter den Fassaden verbarg.
„Seika?" rief Lirien aus der Ferne. „Alles okay? Du siehst aus, als wärst du irgendwo anders!"
Seika blinzelte und kehrte aus ihrem tranceartigen Zustand zurück. Das Gefühl verschwand, wie Nebel, der von der Sonne vertrieben wird. Sie zuckte zusammen und warf Lirien einen gequälten Blick zu. „Ja, ich… ich hab mich nur kurz verlaufen in meinen Gedanken."
„Vielleicht solltest du dich lieber bei uns verlaufen!" Lirien lachte und winkte sie heran. Seika nickte zögernd, doch innerlich fühlte sie sich unruhig. Sie hatte keine Worte für das, was sie gerade erlebt hatte, aber es war nicht unangenehm gewesen. Es war seltsam – und es fühlte sich an wie ein Teil von ihr, der plötzlich ans Licht trat, obwohl sie nicht wusste, warum.
Als sie sich den anderen anschloss, blieb das Gefühl der Beobachtung schwach im Hintergrund. Seika konnte nicht sagen, ob sie sich das einbildete oder ob es wirklich da war. Doch eines wusste sie sicher: Irgendetwas hatte sich verändert. Es war, als hätte die Welt ihr einen geheimen Pfad gezeigt – einen, den sie erst noch verstehen musste.
In der Nähe hob Jonas einen Stein auf und hielt ihn in der Hand. Der Stein schien leicht zu vibrieren, als ob er auf Jonas' Anwesenheit reagierte. „Das ist echt seltsam", murmelte er. „Es fühlt sich an, als ob der Stein… lebt."
Luna saß auf einem Baumstamm und schien von der Sonne umgeben zu sein. Das Licht schien heller zu werden, wo immer sie sich hinbewegte, als ob es sie besonders hervorheben wollte. Sie bemerkte es selbst nicht, doch die anderen Kinder sahen es mit Erstaunen. „Luna, du bist wie ein kleiner Sonnenstrahl!" rief Lirien, was Luna verlegen erröten ließ.
Sophie beobachtete all das mit wachsender Frustration. Sie hatte gehofft, dass auch bei ihr etwas passieren würde, aber nichts geschah. Kein Windhauch schien sie zu begrüßen, keine Tiere näherten sich ihr, und die Pflanzen blieben still. Sie biss sich auf die Lippe und wandte sich ab, um ihre Enttäuschung zu verbergen.
Kevin hingegen lehnte an einem Baum, die Hände in den Taschen. Er schien sich für das ganze Affinitäts-Thema nicht zu interessieren. „Das ist doch alles Unsinn", murmelte er, mehr zu sich selbst als zu den anderen. Doch es war mehr als nur Desinteresse – es war ein leiser Schmerz in seiner Stimme, den niemand bemerkte.
Sophie schlenderte abseits der Gruppe entlang eines schmalen Pfads. Ihre Gedanken waren ein Wirrwarr aus Frust und Unsicherheit. Sie hatte immer geglaubt, etwas Besonderes zu sein – eine kleine Prinzessin in ihrer eigenen Welt. Aber jetzt schien es, als wäre sie die Einzige ohne eine Affinität. Das nagte an ihrem Stolz und ließ sie zweifeln.
Plötzlich hörte sie ein Rascheln. Sie blieb stehen und entdeckte Akio, der sich über ein kleines Vogeljunges beugte. Es zitterte und piepste leise, und Akio sprach sanft auf das Tier ein, während er es behutsam in die Hände nahm. Sophie beobachtete ihn eine Weile, fasziniert von der Geduld und Zärtlichkeit, die er zeigte.
„Willst du mithelfen?" fragte Akio plötzlich, ohne aufzublicken.
Sophie zögerte. „Ich… ich weiß nicht, was ich tun soll."
„Halte einfach die Hände auf", sagte Akio. „Wir bringen ihn an einen sicheren Platz."
Zögernd trat Sophie näher und hielt ihre Hände hin. Akio legte das kleine Vogeljunges vorsichtig hinein, und Sophie spürte, wie ihre Unsicherheit von einem warmen Gefühl der Verantwortung abgelöst wurde. Gemeinsam fanden sie eine geschützte Stelle unter einem Baum, wo das Junge sicher war.
„Das war nett von dir", sagte Sophie leise, während sie sich die Hände abwischte.
„Du warst doch genauso nett", erwiderte Akio. „Manchmal braucht es nur etwas Zeit, bis man seine Verbindung zur Welt findet."
Sophies Herz wurde schwer. „Und was, wenn man keine hat? Was, wenn man einfach… nichts ist?"
Akio sah sie an, überrascht von der Ehrlichkeit in ihrer Stimme. „Ich glaube, niemand ist ‚nichts'. Du wirst es schon herausfinden. Vielleicht bist du einfach etwas Besonderes."
Die Worte ließen Sophie nachdenklich zurück. Auf dem Rückweg zum Sammelplatz fühlte sie sich ein kleines bisschen leichter, obwohl ihre Zweifel noch nicht ganz verschwunden waren.
Als die Gruppe schließlich den Rückweg antrat, war die Stimmung eine Mischung aus Erschöpfung und Zufriedenheit. Die Kinder erzählten einander von ihren Entdeckungen, während die untergehende Sonne den Wald in ein warmes, goldenes Licht tauchte. Sophie war still, doch in ihrem Inneren begann ein neuer Gedanke Wurzeln zu schlagen: Vielleicht musste sie nicht perfekt sein, um dazuzugehören. Vielleicht war es genug, einfach sie selbst zu sein.
Kapitel 2.5: Flüstern im Schatten
Die erste Pause des Tages war immer die lauteste. Kinder drängten sich auf dem Pausenhof, lachten, schrien und tauschten die neuesten Geschichten aus. In einer kleinen Ecke nahe der Turnhalle stand eine Gruppe Schüler zusammen, die mit geflüsterten Worten das Chaos durchbrach.
„Hast du gehört, was am Ende letzten Jahres passiert ist?" fragte ein Junge mit einer Mütze, die tief in sein Gesicht gezogen war.
Ein Mädchen in der Gruppe zog die Augenbrauen hoch. „Was denn?"
„Da war so ein Typ, der… na ja, der jemanden geschubst haben soll. Aber richtig heftig."
„Geschubst? Das ist doch nichts Besonderes," warf ein anderer Junge ein und schnaubte.
„Doch, Mann. Der Typ hat das Kind voll durch die Luft fliegen lassen, und es ist in einen Busch gefallen."
„Wer war das denn?" fragte das Mädchen neugierig.
„Weiß ich nicht genau," murmelte der Junge und sah sich kurz um, als ob er sicherstellen wollte, dass niemand lauschte. „Aber ich hab gehört, der soll auch voll oft Ärger machen."
Das Mädchen lachte. „Das klingt doch nur wie irgendeine dumme Geschichte."
Ein anderer Junge nickte zustimmend. „Wahrscheinlich nur erfunden. So was passiert doch nicht wirklich."
Doch die Gerüchte ließen sich nicht so leicht ersticken. In der nächsten Pause hatten sie bereits eine neue Wendung genommen. Jetzt hieß es, dass der geheimnisvolle Schüler nicht nur geschubst, sondern auch jemanden angeschrien haben soll. Angeblich war der Vorfall so laut, dass sogar ein Lehrer eingreifen musste.
„Ich habe gehört, er soll total ausgerastet sein," sagte ein kleiner Junge mit blonden Haaren zu seinen Freunden. „Und das nur, weil jemand ihn blöd genannt hat."
„Warum würde jemand so reagieren?" fragte ein Mädchen skeptisch. „Das klingt komisch."
„Keine Ahnung. Vielleicht hat der einfach einen schlechten Tag gehabt."
Am nächsten Tag schien die Geschichte noch größer geworden zu sein. Nun war aus dem Schubsen und Schreien ein handfester Streit geworden. Es hieß, der Schüler hätte einen Mitschüler so fest gestoßen, dass dieser hinfiel und sich am Arm verletzte.
„Er soll danach einfach weggegangen sein," raunte ein Mädchen, das die Geschichte genüsslich weitererzählte. „Ohne sich zu entschuldigen."
„Was ist, wenn er einfach Angst hatte?" fragte ein anderer.
„Angst?" Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Nein, ich glaube, der macht das absichtlich. Der Typ ist voll gefährlich."
Ein Junge mit einem Fußball unter dem Arm hörte das Gespräch mit und mischte sich ein. „Das kann nicht sein. Niemand hier würde so was machen. Ihr redet Quatsch."
„Aber warum erzählen das dann so viele?" fragte das Mädchen scharf. „Du willst doch nicht sagen, dass wir uns das ausdenken?"
„Keine Ahnung. Aber ich hab noch nie von so jemandem gehört."
Das reichte, um Zweifel zu säen, doch nicht genug, um die Gerüchte zu stoppen. Im Gegenteil: Sie wuchsen weiter. Als die nächste Woche begann, hatte sich die Geschichte zu etwas völlig anderem entwickelt.
„Ich hab gehört, er hat jemanden geschubst. Voll heftig," flüsterte ein Junge mit einer blauen Kappe, während er sich zu einer Gruppe beugte.
„Wen denn?" fragte ein Mädchen mit großen, neugierigen Augen.
„Weiß nicht genau. Irgendjemanden aus der Parallelklasse. Aber anscheinend richtig brutal. Der ist direkt in die Büsche geflogen."
„Und warum?" warf ein anderer Junge skeptisch ein.
„Keine Ahnung, vielleicht, weil der Typ ihn beleidigt hat? Aber das macht man doch trotzdem nicht!"
Die Gruppe schüttelte unisono die Köpfe, aber die Worte blieben hängen. Sie breiteten sich weiter aus wie ein unsichtbares Netz, das jede Pause neue Fäden spann.
Am nächsten Tag wurden die Gespräche leiser, aber eindringlicher. „Er ist komplett ausgerastet," raunte ein Junge, während er über seinen Schulranzen lehnte. „Nur weil jemand ihn schief angeschaut hat. Der hat den anderen angeschrien, dass ihm der Hals platzt."
„Wer macht denn so was?" fragte ein Mädchen schockiert. „Hat der vielleicht ein Wutproblem?"
„Klar! Das sagen doch alle. Der Typ kann sich nicht beherrschen," bestätigte ein anderer Junge mit verschränkten Armen.
Es dauerte nicht lange, bis die Geschichte sich noch weiter aufgebläht hatte. Jetzt war aus dem Schubsen und Schreien eine handfeste Attacke geworden. In einer anderen Ecke des Schulhofs beugte sich ein Mädchen zu ihren Freundinnen. „Wisst ihr, was ich gehört habe? Der hat ein Mädchen geschubst. Nur, weil sie gesagt hat, dass er überreagiert hat."
„Was? Ein Mädchen?" fragte eine der Freundinnen ungläubig.
„Ja, und angeblich hat sie geweint. Aber er soll nur gelacht haben."
„Das ist krank," murmelte eine andere. „Was ist mit dem los?"
Am Ende der Woche hatten die Gerüchte endgültig ein Eigenleben entwickelt. Jetzt hieß es, der geheimnisvolle Schüler hätte nicht nur geschubst und angeschrien, sondern auch jemanden am Kragen gepackt. „Er soll total gefährlich sein," erzählte ein Junge in der Nähe der Turnhalle. „Ich hab gehört, er hat ein Wutproblem und kann einfach ausrasten."
„Ja, und wenn jemand was sagt, dann wird er noch wütender," ergänzte ein Mädchen, das sich das Gespräch nicht entgehen lassen wollte. „Er schubst sogar Mädchen, wenn die über ihn reden."
„Das glaube ich nicht," murmelte ein anderer. „Niemand würde so was machen."
„Doch, ich hab's von meiner Schwester gehört," beharrte das Mädchen. „Und die kennt jemanden, der dabei war."
Die Geschichte breitete sich wie ein Lauffeuer aus, bis niemand mehr wusste, woher sie eigentlich kam. Aber die Details wurden immer gruseliger und die Anschuldigungen immer dramatischer.