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Prothesen

Mit geschlossenen Augen lag er regungslos da, ein lebloser Körper. Die Stille überdeckte sämtliche Geräusche, und ein beißender Gestank erfüllte den Raum. Stunden vergingen, in denen der bewusstlose Kaiden keinerlei Lebenszeichen von sich gab. Doch der Schein trügte, er war nicht tot, sondern lediglich in einer Nahtod-Erfahrung gefangen. Sein Atem schien stabil zu bleiben, so wie es vorgesehen war. Der Ablauf verlief scheinbar perfekt, ohne jegliche Hindernisse. Der übliche Geruch entstand, da sein gesamter Körper sich von innen erneuerte und die abgestorbenen Zellen nach außen beförderte. Seine Haut schien sich zu häuten, Hautpartikel lösten sich unregelmäßig voneinander und entfernten sich von seinem scheinbar neuen Körper.

Weitere Stunden vergingen in diesem scheinbar ruhigen und erlösenden Schlaf, obwohl er zuvor extreme Qualen erlitten hatte. Stetig schälte sich sein Körper weiter, mittlerweile waren Meter von durchsichtiger, scheinbar dünnen Folie von Kaidens Körper entfernt worden. Im Inneren des ungestörten Raumes schien das Helle in Dunkelheit umzuschlagen, die Personen, die ein- und ausgingen, schienen sich im Zeitraffer zu bewegen. Die Uhrzeit, die immer am Rand der Wand stand, verstrich in Sekundenschnelle, ganze Tage vergingen in nur wenigen Momenten, und der Mond schien der Sonne mehrmals zuzuwinken.

Es wurde dunkel, dann wieder hell, unterstützt von permanenten Besuchen anderer Personen, die jedoch aufgrund der Verzerrung unkenntlich blieben. Ganze Tage vergingen weiter und weiter, bis schließlich der tägliche Wechsel von Sonne und Mond abrupt stoppte und die beiden Himmelskörper sich beinahe berührten. Der Mond schien wütend auf die Sonne einzuschreien, doch auch er war bereits davongetreten und nicht mehr zu sehen.

Wochen vergingen, und Kaiden schien immer noch leblos in seinem weißen Bett zu liegen. Obwohl immer wieder Reinigungskräfte hereinkamen, um die abgetrennten Zellen zu entfernen, schien noch immer viel übrig zu sein. Obwohl seine Schichten bereits teilweise zehn Mal entfernt worden waren, schien es genauso viel zu sein wie kurz nach dem Einschlafen. Der scheinbar tote Körper schien jedoch immer lauter zu atmen, fast so laut wie nach einem ewig währenden Marathon.

Plötzlich schien das Volumen seiner Brust anzuschwellen, und eine gewaltige Energie schien aus ihm auszubrechen. Leichter Dampf in Form von extremer Weiße stieg von seinem Körper auf. Fast so, als würde dampfendes Wasser emporsteigen. Mit der Reaktion der weißen, umhüllenden Luft schienen sich seine noch eben geschlossenen Augen zu öffnen. Die Pupillen waren weit aufgerissen, als hätte er einen Adrenalinschub und wäre auf Drogen. Seine Augen waren jedoch noch weiter geöffnet. Man konnte förmlich die bläuliche Iris mit einem Abstand von einem halben Zentimeter zu den Augenrändern sehen.

Mit einem kurzen Aufschrecken der Stimmlage schrie Kaiden, der sich geistig immer noch in den Qualen befand. Doch das Merkwürdige war, dass er beim Schrei aufrecht saß. Plötzlich konnte er seinen Oberkörper vollständig kontrollieren. Auch sein linker Arm gehorchte ihm, verwirrt griff er nach seinem eigenen Körper. Hektische Abtastungen erfolgten, zuerst seine abgetrennten Beine, dann sein Oberkörper und schließlich sein Gesicht. Fast schien er sich selbst in seine immer noch weit geöffneten Augen zu langen.

Mit einem Aufschrei der Erleichterung berührte Kaiden seinen noch immer abgetrennten rechten Arm erneut. Er war erleichtert, nicht nur darüber, dass er so manche Gliedmaßen nicht mehr besaß, sondern auch darüber, dass er seinen Körper frei bewegen konnte, ohne jegliche Beschwerden oder Schmerzen. Warum war das so? War es der Schock oder der Adrenalinschub? Wahrscheinlich eher nicht, selbst die stärkste Droge konnte diese verheerenden Phantomschmerzen nicht verschwinden lassen. Es musste Magie sein, dachte er, und plötzlich fiel ihm die Spritze ein. Er muss dadurch erwacht sein. Doch dass er dermaßen gestärkt werden würde, konnte er sich nicht einmal in seinen schönsten Träumen vorstellen.

Während seine Gedanken um die wundersame Heilung kreisten, genoss er es, seinen Körper frei zu bewegen. Besonders seinen linken Arm bewegte er wild umher. Immer wieder ballte er seine linke Hand fest und schlug sich leicht ins Gesicht, um sich zu vergewissern, dass es kein Traum war. Ein breites Lächeln breitete sich auf seinen abgeschliffenen, dennoch scheinbar gut durchbluteten und feuchten Lippen aus. Es war kein Traum, schrie er innerlich und schien vor Freude in die Höhe zu springen. In der Realität schwang er jedoch nur leicht hin und her, wodurch das Krankenbett laut quietschte. Bewundernd betrachtete er seinen eigenen Körper und konnte nicht aufhören, sich selbst zu berühren. Überall, wo er fasste, spürte er scheinbar harte, stabile Haut mit vielen leichten Wölbungen, die die Narben repräsentierten.

Als Kaiden sich mehrere Minuten lang selbst von oben betrachtete und alles mit seiner linken Hand fühlte, realisierte er erst, wie schlimm seine Verletzungen waren. Beine und Arm waren abgetrennt, und am Ende der Abtrennung waren Haut und Muskeln zusammengewachsen, durchbrochen von einem großen Stück Knochen, das allerdings nicht herausragte, sondern nur fühlbar war. In der Bewunderung seiner schlimmen, dennoch schmerzlosen Verletzung öffnete sich erneut die Türklinke und erhellte den stillen Raum mit einem leisen Klang.

Vertraute Geräusche drangen ein. Mit einem schärferen Blick sah er sie nun deutlich: Die Schwester, der Pfleger und der Arzt. Die kurzen und leisen, aber frohen Begrüßungslaute ertönten, wie er es erwartet hatte. Mit großen Augen starrten sie den aufrecht sitzenden Kaiden an, der ein breites Lächeln auf den Lippen trug. Verwundert, dass er schon wach war, schienen sie dennoch erfreut, bis auf den Arzt. Dieser hielt sein Pokerface aufrecht und verzog keine Miene.

Doch die drei plötzlich eintretenden Personen schienen aufgrund der dampfenden Aura, die Kaiden ausstrahlte, plötzlich anzufangen zu husten, und das Husten wurde immer stärker. Der Arzt sagte schnell: „Bitte, jemand muss das Fenster öffnen." Ohne zu zögern rannte der Pfleger an Ort und Stelle und öffnete das Fenster genau so, wie er es vor Wochen geschlossen hatte. Die Stimmung war anders, nicht nur weil die Luft stickig war, sondern auch, weil Kaiden erfreut aussah, statt finster und in sich gekehrt, ohne jegliche Sympathie für das Geschehen.

Während frischer Wind sich in den etwas stickigen Raum mischte, schien der Pfleger ihn fragen zu wollen, wie es ihm gehe. Doch während er sich dazu in Bewegung setzte, den Mund zu öffnen und seine Gedanken zu äußern, sagte der Arzt, dass sie einige Tests für die Kopplung der Prothesen machen müssten. Kaiden, der voller Freude vergessen hatte, dass solche Erfindungen existierten, schien umso fröhlicher und fragte, ob sie nicht sofort beginnen könnten. Der Arzt bejahte dies und drehte sich ohne lange zu warten um, schließlich hatte die Regierung bereits einige Dinge hierhergebracht. Eine Kiste, völlig schwarz und identisch mit dem mysteriösen Koffer, ließ sich per Knopfdruck öffnen. Selbst der Arzt war überrascht, als er den Inhalt sah: eine Vielzahl von C8 Prothesen. Solche hatte der Arzt zum ersten Mal gesehen. Das Besondere an ihnen war, dass sie sich selbstständig dem Individuum anpassten und wie echte Glieder fungierten. Die älteren Arme griffen nach den drei Prothesen, jeweils ein rechtes und linkes Bein sowie ein rechter Arm. Fast schon schwerelos wirkten sie, so leicht waren sie.

Verwundert von diesen Prothesen lief er in Richtung Kaiden und legte sie vorsichtig auf dessen Bett. Der Dampf legte sich nun völlig, und erfrischender, reiner Sauerstoff war zu atmen. Kaiden, der versuchte, seine nicht vorhandenen Beine auszustrecken, bewirkte nichts, da fiel es ihm auch wieder ein. Umso mehr freute er sich auf diese, da er nicht mehr daran denken musste. In den rauen, großen Händen des Arztes befand sich eine Prothese des linken Beines. Immer näher kommend schienen die Prothese und das Bein sich weiter zu nähern, bis die Prothese wie von Zauberhand an Kaidens Bein hingezogen wurde. Es war wie ein positiv geladener Magnet, der sofort auf ein negativ geladenes Magnetfeld reagierte. Die Prothese, die ebenfalls metallisch schwarz wirkte, umfasste den Rest des abgetrennten Beines und umhüllte es, als würde sie sich mit ihm verschmelzen, um dieses zu umklammern und einzufügen. Mit einem kurzen Schmerz und einem lauten Aufschrei schien sich das Bein zu bewegen. Sein fröhliches Gesicht schien im Grinsen und Lachen zu versinken. Er spürte alles, und die Prothese tat alles, was er tat. Selbst der kleine Zeh war steuerbar und beweglich wie ein echter – ein wahres Wunder.

Nicht nur Kaiden war glücklich, sein Lächeln steckte jeden im Raum an, sodass selbst der Arzt etwas schmunzeln musste, auch wenn er es sofort wieder unterdrücken musste. Gefolgt von den anderen beiden Prothesen, die ähnlich, wenn nicht identisch, abliefen. Sie zogen sich am Körper an, stachen kurz ein, um sich mit der Nervenbahn zu verbinden, und schwupp, war der Körper von Kaiden funktionsfähig. Fröhlicher als je zuvor bewegte er alles, was er konnte. Linker Arm, rechter Arm, linkes Bein und rechtes Bein. Er schwang alles wild umher wie ein verspieltes Kind. Er zögerte auch nicht lange und stand einfach mal vom Bett auf. Er stützte sich ab, indem er seine Arme hinter sich packte und sich mit den Beinen nach vorne bewegte. Am Rand angekommen, setzte er seine nun verwendbaren Füße auf den etwas kalten, flachen, weiß-grauen Boden und stützte sich mit den Armen am Bettrand ab. Vorsichtig stand er auf und schien kurz nach der Befestigung der neuen Prothesen schon stehen zu können. Doch nicht nur das, er schien auch schon anfangen zu können zu laufen. Er bewegte seine Beine im Rhythmus, hob das linke Bein nach vorne, gefolgt von dem rechten. Weiter und weiter, bis zum geht nicht mehr, hatte er vor. Doch irgendwann wurde es schneller, und er schien sich schnell fortzubewegen. Er lief auf den Pfleger und die Schwester zu, die ihm auswichen. Der erfrischende Wind stieß ein letztes Mal mit einem kräftigen Schub an und ließ die langen Haare von Kaiden in der Luft schweben. Die durchlüftete Kleidung schien sich von seinem Körper zu lösen, und er rannte schon fast nackt durch die Gegend. Kaiden war froh und fühlte sich seit Langem wieder frei. Er konnte die einstudierten Gänge des Krankenhauses selbstständig laufen. Sein Gedanke von Freiheit und Glückseligkeit erfüllt, schob er seinen Tumor in die Vergangenheit und blickte nur in die Zukunft.