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Der Aufstieg  

Große, hastige Schritte durchbrachen die Stille der verwüsteten Etagen, als die durchnässten Schuhe der beiden gegen sämtliche Gegenstände stießen. Frische Schuhabdrücke zeichneten ihren Weg überall dort, wo sie sich hinbewegten. Die durchnässte Kleidung klebte regelrecht an ihrer Haut, da die eiskalte Nässe durch den gelegentlich durch die Fenster hereinwehenden Wind förmlich auf sie gepresst wurde. Die Kälte, die sie nun durchdrang, ließ sie erzittern, und während sie die Treppen in Eile erklommen, mussten sie Niesen unterdrücken.

 

Leon besaß noch ausreichend Kraft und schien sicher, dass er es bis ganz nach oben schaffen würde. Doch Kaiden, der bereits zu viel Blut verloren hatte und nun auch von der Kälte geplagt wurde, fühlte sich von Minute zu Minute schwächer. Sein Schweiß schien kälter als Eis zu sein, und sein ermüdeter Kopf pendelte hin und her.

 

Irgendwann verlor er das Gleichgewicht und drohte zu stürzen. Seine durchnässte Schuhsohle fand auf einer glatten Treppenstufe keinen Halt mehr, und sein Bein schwang mit ordentlichem Schwung nach vorne. Sein Oberkörper folgte, bog sich nach hinten, und er begann langsam nach hinten zu fallen. Leon, der direkt hinter ihm rannte, packte ihn von hinten und stieß ihn mit aller Kraft nach vorne. Dabei geriet auch Leon leicht ins Schwanken, konnte aber dennoch weiterrennen.

 

Als er den angeschlagenen Kaiden an der oberen Treppenkreuzung sah, klatschte er ihm auf den Rücken, um ihn anzuspornen. Dieser Schlag löste eine Kettenreaktion in Kaidens Körper aus. Er spürte den Schlag von seinem Rücken durch seinen Rumpf bis zum Becken und reagierte, indem er seine Muskeln zusammenriss.

 

Mit zusammengeballten Fäusten schlug er auf seine Oberschenkel, um seine Beine wach zu halten. Diese schienen glatt nachzugeben, da sie die Last seines schweren Oberkörpers nicht mehr tragen konnten. Doch in dieser extremen Situation war es der unerschütterliche Wille, der seine Beine wie einen Motor antrieb.

 

Kaiden hob sein linkes Bein, setzte es vorsichtig nach vorne, landete und hob dann sein rechtes Bein. Dieser Vorgang wiederholte sich so lange, bis es zur Routine wurde. Kaiden konnte endlich wieder laufen, aber sein rechter Arm bereitete ihm weiterhin Schwierigkeiten. Das linke konnte er wie gewohnt bewegen, aber das rechte überhaupt nicht.

 

Er wusste, dass selbst wenn sie diese gefährliche Situation überleben sollten, sein rechter Arm unwiederbringlich verloren wäre. Doch im Augenblick zählte nur das Überleben, und darauf richtete er seine ganze Aufmerksamkeit.

 

Während sie rannten und rannten, schienen die endlosen Treppen kein Ende zu nehmen. Sie rannten und rannten, und Kaiden fühlte sich immer bedrängter. Sie hatten zwar den Großteil der Etagen bereits hinter sich gelassen, aber draußen tobte immer noch der stürmende Regen. Kaiden konnte nicht erahnen, wie lange der Tsunami noch brauchen würde. Die Zeit schien gegen sie zu arbeiten, und ein weiteres Erdbeben erschwerte ihre Lage.

 

„Verdammt, wir müssen uns beeilen!", rief Kaiden und gab Leon einen Hinweis, dass er nach oben schauen sollte, um nicht von herabstürzenden Objekten getroffen zu werden. Leon verstand die Botschaft und achtete sorgfältig darauf, wohin er trat, während er weiter nach oben rannte.

 

Die beiden jungen Männer rannten und rannten, aber die Etage, in der sie sich befanden, schien kurz vor dem Einsturz zu stehen. Der Boden bebte, und Risse durchzogen die Decke. Glücklicherweise waren Kaiden und Leon bereits weit genug entfernt, als die Regale wie Dominosteine umfielen und Steinsäulen sowie Möbel in die Tiefe stürzten.

 

Doch das Unglück hörte nicht bei einer Etage auf, sondern erstreckte sich auf mehrere. Die Herzen der beiden schlugen immer schneller, als sie sahen, wie alles hinter ihnen zusammenbrach.

 

„Es sind nur noch fünf!", rief Kaiden. Leon keuchte zur Antwort: „Ja, nur noch fünf!"

 

Obwohl sie die meisten Etagen bereits überwunden hatten, schien der Tod ihnen noch immer dicht auf den Fersen zu sein. Nur noch fünf Etagen bis zur vermeintlichen Freiheit.

 

„Wir dürfen nicht aufgeben!", rief Kaiden und pushte sich und Leon weiter. Die Zeit drängte, und der Tod schien näher zu kommen. Kaiden wollte nicht dasselbe Schicksal erleiden wie die regungslosen Menschen, die sie unter den Trümmern gesehen hatten.

 

Nur noch vier, dann drei Etagen – doch der Sturm draußen zeigte keine Anzeichen einer Besserung. Plötzlich erschütterte ein weiteres Erdbeben das Gebäude.

 

„Verdammt, wir müssen uns noch mehr beeilen!", schrie Kaiden

Die Rettung schien greifbar nahe, aber das Erdbeben hörte nicht auf, sondern breitete sich auf weitere Etagen aus. Ihre Herzen rasten, und die Zeit lief ihnen davon.

 

„Nur noch drei!", schrie Kaiden

 

Die Spannung war kaum auszuhalten. Sie rannten weiter, als ginge es um ihr Leben – denn das tat es tatsächlich. Und dann waren es nur noch zwei Etagen. Die Zeit drängte, der Tod war ihnen auf den Fersen, und dennoch kämpften sie mit aller Kraft und einem Adrenalinschub, der ihre Pulsschläge ins Unermessliche trieb.

 

Nur noch eine Etage.

 

Kaiden streckte seinen nicht verletzten Arm aus und umklammerte den Türgriff mit seiner geschwächten Hand. Mit seinem gesamten Gewicht drückte er gegen die moderne, schwarze Tür. Die Tür öffnete sich in einem Bruchteil einer Sekunde, und ein lautes Knallen erfüllte die Luft.

 

Kaiden starrte auf die Szene vor ihm, ein Wechselbad der Gefühle durchströmte ihn. Zuerst überkam ihn Freude und Erleichterung, als er die Tür zur vermeintlichen Freiheit öffnete. Der Regen schien aufgehört zu haben und die Sonne schien so schön wie noch nie. Eine Hand strich ihm auf seine Schulter, Leon zeigte mit der anderen in die hintere Richtung. Kaiden blickte zu Leon und dann zu seiner Hand in Richtung Ausgang.

 

Doch in einem Augenblick wurde seine Freude von Dunkelheit überlagert. Kaidens strahlende Augen erloschen, und in ihnen lag nur noch Trauer.

 

Ein düsterer Fleck karmesinroter Flüssigkeit breitete sich langsam unter den Trümmern aus und bedeckte den Boden. Kaiden starrte auf das Blut, dann zu Leon, der reglos dalag.

 

Es schien wie eine Illusion und der Regen war wieder an Ort und Stelle.

 

Panik und Verzweiflung ergriffen Kaiden, und er versuchte verzweifelt, Leon aus der gefährlichen Zone zu ziehen. Doch sein Freund rührte sich keinen Millimeter. Leon sagte mit rauer, leiser Stimme, dass er seine Beine nicht mehr spüre und es zu spät für ihn sei.

 

Kaiden konnte es nicht fassen. „Wie kannst du so etwas sagen?", fragte er mit zitternder Stimme, erfüllt von Trauer und Verzweiflung. „Du bist doch unser Hoffnungsträger. Ich lasse dich hier nicht einfach sterben!"

 

Leon lächelte schwach, spuckte Blut aus und konnte sein Husten kaum unterdrücken. Er räusperte sich mehrmals und fragte mit kratzender, leiser Stimme: „Kaiden?"

 

„Ja, was ist?", erwiderte Kaiden mit einer noch traurigeren Stimme als zuvor.

 

Leon ließ ein leichtes Lächeln über seine Lippen gleiten, als er seine letzten Worte sprach: „Versprich mir eins, wenn du hier lebend rauskommst, dann trink bitte heißen Kakao nur für mich."

 

Kaiden verstand nicht, wie Leon in dieser Situation Scherze machen konnte. Er stammelte mit zerrissener Stimme: „Wie kannst du jetzt solche Witze machen?"

 

„Mir ist kalt", flüsterte er und hustete erneut. Dann streckte er ein letztes Mal seinen Arm aus, als wolle er noch etwas sagen. Doch es war zu spät. Sein Kopf neigte sich langsam nach unten, und seine makellosen haselnussbraunen Augen schlossen sich für immer.

 

Der Sensenmann hatte eine neue Seele in den Himmel genommen, der nun scheinbar friedlich und klar über ihnen lag.