Leo ging nicht sofort in den Wald. Er hatte kein Geld für eine ordentliche Ausrüstung, konnte aber die Zeit nutzen, um die Anwendung seines Zauberspruchs zu verfeinern. Den ganzen restlichen Tag übte er den Zauber wieder und wieder, bis Daphne zurückkehrte. Als sie da war, hörte er auf und gönnte sich eine Pause. Nachts übte er nicht weiter, sondern ruhte sich aus, da er am kommenden Tag viel Energie benötigen würde.
Am nächsten Tag machte er sich zusammen mit Daphne auf den Weg. Seine Tasche war dieses Mal nicht zerschlissen. Stattdessen hatte er einen neuen Beutel dabei, denn er musste die Kräuter vorsichtig transportieren. Der Beutel hatte drei separate Fächer, je eines für jede Kräuterart. Es war eine ehrgeizige Aufgabe, aber er musste sie bewältigen. Das einzige andere, was er besaß, war sein Messer. Es war der einzige Kauf, den er je von seinen Ersparnissen getätigt hatte, abgesehen von Lebensmitteln. Er hatte es vor einem Jahr erworben und würde es nun zum ersten Mal wirklich zum Einsatz bringen.
Daphne trennte sich von ihm, um Arbeit zu suchen, während Leo geradewegs zu Trevor ging. Er wollte sich vergewissern, dass Trevor ihm das Geld auch wirklich geben würde.
Trevor sah ihn kommen und lächelte.
"Gehst du heute in den Wald?" fragte er Leo, dessen Beutel an der Schulter nicht zu übersehen war.
Leo nickte. "Ja. Ich wollte nur sicherstellen, dass unsere Vereinbarung noch Bestand hat."
Trevor streckte seine Hand aus.
"Lass uns darauf einschlagen. Ich werde mein Wort nicht brechen."
Leo schlug ein. Dann wandte er sich ab und machte sich auf den Weg in den Wald. Hinter ihm rief Trevor ihm noch einen Tipp nach:
"Ziel auf ihre Augen. Sie gehen zu Boden, wenn du ihr Gehirn triffst."
Leo war dankbar für den Ratschlag, hoffte aber innerlich, ihn nicht anwenden zu müssen. Er ging auf den Valkyr-Wald zu. Während er weiterlief, beruhigte er seinen Atem. Dieser Auftrag war der größte und gefährlichste, den er je übernommen hatte. Natürlich war er unglaublich nervös.
"Natürlich kann nichts schiefgehen", murmelte er zu sich selbst und kicherte über seinen Aberglauben, während er weiterzog.
Als er den Rand des Waldes erreichte, entschied er, sofort den körperstärkenden Zauber anzuwenden. Bei seinen Übungen am Vortag hatte er festgestellt, dass sein Körper den Zauber nur zwei Stunden lang aufrechterhalten konnte. Danach bräuchte er eine Stunde Erholung, um den Zauber erneut zu wirken. Dies lag daran, dass es seinem Körper an genügend Energie mangelte.Er spürte den Schub von Kraft in seinem Körper. Mit dieser neuen Stärke wuchs sein Selbstbewusstsein, und er begab sich in den Wald.
Die ersten dreißig Minuten ging er nur tiefer in den Wald hinein. Er bewegte sich etwas schneller als üblich und war tiefer vorgedrungen als zuvor. Daher überraschte es ihn, noch kein einziges Tier angetroffen zu haben. Nicht einmal einen gewöhnlichen Hasen hatte er gesehen. Was er dann entdeckte, klärte ihn auf.
Vor ihm wuchs ein magisches Kraut. Es war eine orangefarbene Pflanze, von deren Blättern Funken zu tropfen schienen. Das Kraut war in etwa so hoch wie die Glimmerwurzel, leuchtete jedoch viel heller. Die Funken schienen das Gras darunter nicht zu verbrennen, so hoffte er, dass sie auch nicht seinen Rucksack in Mitleidenschaft ziehen würden.
Er zückte sofort sein Messer, denn er wusste, dass das Kraut ein Tier für sich beanspruchte. Es konnte der einzige Grund sein, warum sich kein anderes Tier in der Nähe aufhielt. Seine Sinne schärften sich, als das Adrenalin in seinem Körper anschlug.
Er hielt Ausschau nach einem Raubtier. Nur ein Raubtier oder eine magische Bestie waren mächtig genug, um ein ganzes Gebiet für sich zu beanspruchen. Magische Bestien interessierten sich allerdings nur für Kräuter im inneren Teil des Walkürenwaldes. Er befand sich derzeit im äußeren Wald.
Das letzte Mal war er an den Randgebieten gewesen, die kaum als Teil des Waldes galten. Der einzige Grund, warum er überhaupt einem Wolf begegnet war, war wohl, dass der Wolf das Gebiet erkundete und zufällig auf seine Fährte gestoßen war. Doch dies war der äußere Wald, in dem gefährliche Tiere häufiger anzutreffen waren. Nur angehende Aura-Ritter und höher konnten es wagen, dieses Gebiet zu erkunden.
Schnell fand er seinen Gegner. Ein Tiger schlief im Schatten eines Baumes, das Kraut fest im Blick. Er hatte das Kraut wohl noch nicht gefressen, in der Hoffnung, dass es noch weiter reifen würde. Je länger Kräuter wachsen, desto stärker werden sie.
Tiere, die magische Kräuter fraßen, hatten die Chance, sich zu magischen Bestien zu entwickeln. Ihre Abstammung spielte zwar auch eine Rolle, doch magische Kräuter erhöhten die Wahrscheinlichkeit. Der schlafende Tiger vor ihm deutete darauf hin, dass ein Überraschungsangriff seine beste Chance war.
Er ging nicht direkt auf das Kraut zu, denn er wollte sich dem Tiger nicht von vorn nähern. Würde er aufwachen, wäre er erledigt. Stattdessen schlich er von der Seite an das Kraut heran. Er wollte überraschen, aber falls der Überraschungsangriff fehlschlug, wollte er im Vorteil sein.
Langsam pirschte er sich an den Tiger heran, das Messer fest im Griff. Je näher er kam, desto bedachter bewegte er sich, um möglichst leise zu sein. Als er drei Meter entfernt war, wusste er, dass jede weitere Bewegung den Tiger aufschrecken würde.
Er holte tief Luft und bereitete sich vor. Nach einem Moment der Ruhe sprang er auf den Tiger zu. Er schwang das Messer mit aller ihm zur Verfügung stehenden Kraft in den Kopf des Tigers. Das Messer war zwar nicht perfekt geschärft, bohrte sich aber dennoch in den Schädel des Tieres. Er vernahm einen leisen Wimmern des Tigers, doch das Tier hatte keine Chance sich zu wehren und starb sofort.
Er atmete schwer. Das Adrenalin in seinem Körper hatte seinen Höhepunkt erreicht. Nachdem er sich aufgerichtet hatte und sein Opfer betrachtete, wandte er seinen Blick zurück auf das Kraut und ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.
"Einer weniger."