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Der letzte Tag / Countdown

Nach einer beinahe schlaflosen Nacht, in der ich so ziemlich mein komplettes Leben ein zweites Mal durchlebt hatte, wachte ich auf. Ich hatte länger geschlafen als erwartet, es war bereits nach 12 Uhr. Joe war auch gerade wach geworden, doch wir waren beide nicht sehr gesprächig. Obwohl ich selbst ziemlich in Gedanken vertieft war, versuchte ich mit ihm zu sprechen.

Immerhin ist das der letzte Tag zusammen. Der allerletzte...

"Joe?" frage ich vorsichtig, als er nach fünf Minuten immernoch nicht aufgehört hat, ein Loch in seine Couch zu starren. Nun hat er es geschafft, seinen Blick abzuwenden und auf mich zu richten. Ein unschuldiges "Hm?" ist alles was er herausbringt. Ich stehe von meinem Platz auf und setze mich neben ihn.

"Alles.. okay? Du bist so still," frage ich, obwohl das eine echt blöde Frage ist. Wir könnte nur 'alles okay' sein? Ich nehme seine Hand und setze mich im Schneidersitz hin, sehe zu ihm auf, weil er viel größer ist als ich, selbst noch im Sitzen. "Ich...," er seufzt kaum merklich. "Ich habe etwas Angst, Charlotte," sagt er dann leise und sieht zu mir hinunter, sein Blick scheint fast schon... hilfesuchend.

Sein Anblick macht mich sofort wieder schwach, sanft, und ich lege die Arme um seinen Bauch. Er zieht mich gleich näher und legt sein Kinn auf meinem Kopf ab, welcher an seiner Schulter ruht. "Das kam alles viel zu... plötzlich," murmle ich gegen seine Brust. Ich spüre wie er nickt und ziehe meine Beine näher an meinen Körper.

Er streicht mit dem Daumen immer wieder langsam über meinen Arm, es wirkt beruhigend, und für einen Moment fühlt sich alles ganz okay an.

"Ich stelle mir immer wieder die selbe Frage, weißt du?"

Ich sehe verwirrt zu ihm auf, präge mir wie so oft in den vergangenen Tagen seine Gesichtszüge ein, bevor ich antworte. Als könnte jeder Moment mit ihm der Letzte sein, das letzte Mal, dass ich ihn ansehen darf. So ist es eigentlich auch. Niemand weiß, wann es passieren wird, weder wissen wir, was genau passieren wird. "Welche Frage?"

Ich verdränge meine Gedanken und konzentriere mich nur noch auf die kleinen Kreise, die er mit seinen weichen Fingern auf meine Haut malt, und warte auf seine Antwort.

"Ob es nun gut oder schlecht ist, was hier passiert."

Ja, das habe ich mich auch bereits viele Male gefragt. Nach einer Weile entschließe ich mich. "Gut." Meine Stimme klingt unsicher, aber ich meine was ich sage. Sein Blick ist wieder auf mir, er versteht mich nicht ganz, vermute ich.

"Weißt du, ich hätte wohl nie den Mut aufgebracht, dir meine Gefühle preißzugeben, von zuhause abzuhauen, Fallschirm zu springen oder mir ein Tattoo stechen zu lassen, wäre das nicht gewesen. Und ich wusste vieles nicht zu würdigen... Aber wer kann schon wirklich bestimmen, was gut und was schlecht ist?"

Er denkt eine Weile nach, über das was war seit der Verkündung der Nachricht, bevor er still meine Stirn küsst. In diesem kurzen Moment fühle ich mich beschützt, als wäre unser aller Tod nicht beinahe besiegelt.

Die Liebe ist schön, gefährlich. Dein Beurteilungsvermögen ist eingeschränkter und ja, es stimmt, dass man eine Art rosarote Brille trägt. Denn man sieht nur das Gute und ignoriert alles Schlechte, blendet Hinweise auf Gefahr, Schmerz und Traurigkeit aus.

Und genau das brauche ich jetzt.

Wir verweilten noch längere Zeit so, und redeten uns ein, dass das alles nicht real wäre, während wir die Wahrheit längst kannten. Wir warteten, auf das Ende dieser Ära, der kompletten Menschheit. Auf unseren Tod. Zuerst verging die Zeit viel zu langsam, dann verging sie garnicht. So kam es uns zumindest immer vor, jedoch vergeht die Zeit immer in derselben Geschwindigkeit.

Und schlussendlich verging die Zeit dann doch zu schnell, jetzt, wo wir hatten was wir wollten, getan haben was wir uns zuvor nicht getraut haben. Doch das ist okay.

Denn wir waren hier, wir durften an diesem Wunder, dieser wunderschönen Welt teilhaben. Sei dankbar für das was du hast und trau dich, nach deinen Träumen zu streben. Wer weiß, vielleicht werden sie ja wahr? Aber nur, wenn du etwas dafür tust. Denn Leben findet dann statt, wenn du deine Komfortzonen verlässt, deinen inneren Schweinehund überwindest, dein Herz entscheiden lässt und einfach das tust, was dich glücklich macht.

Es ist dein Leben. Und du hast nur eins. Genieße es, denn du bist hier. Hier und jetzt.