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Der fünfte Tag / Adrenaline

Etwas kitzelte an meinem Arm. Widerwillig öffnete ich meine müden Augen, um zu sehen, was es war. Joe lag neben mir und strich mit dem Finger langsam über meinen Arm, immer wieder, und starrte verträumt in die Luft.

Ich sah ihn an und er bemerkte, dass ich wach war. "Hey," sagte er sanft. Seine Stimme war rau und ich bekam eine Gänsehaut."Hast du gut geschlafen?" fragte er mich und lächelte leicht. "Ja, es ging schon," antwortete ich leise, schenkte ihm jedoch ein kleines Lächeln. Ich hatte zwar gut geschlafen, aber nicht lange genug. Es war 6 Uhr morgens und weiß Gott, ich war kein Morgenmensch. Naja, außer 'Morgen' würde um 1 Uhr mittags stattfinden.

"Und du? Hast du gut geschlafen?," fragte ich ihn, während ich mich aus seinen Armen löste und mich aufsetzte. "Ja, ich hatte einen Traum, der mich auf eine Idee gebracht hat. Du hast ja keine Höhenangst, stimmt's?" Ich zog meine Augenbrauen zusammen. Was hatte er im Kopf?

"Was hast du vor, Joe?" fragte ich ihn und er grinste. "Wie fändest du es, wenn wir heute Fallschirm springen gehen würden?" WAS? "Du machst Witze." behauptete ich und er lachte. "Ich habe immer davon geträumt, das zu tun! Oh mein Gott, Joe!" Sein Lachen erfüllte den kompletten Raum und es war wie Musik in meinen Ohren.

"Also ich weiß zwar dass ich toll bin, aber ein Gott..." sagte er grinsend. Ich boxte ihm gespielt beleidigt gegen die Schulter und er nahm meine Hand. Er hörte auf zu lachen und schaute mir direkt in die Augen. "Ich liebe dich so sehr, Charlotte. Ich bereue es, dir das nie aufrichtig gesagt zu haben. Wer weiß, vielleicht überleben wir das ja. Ich hoffe es inständig. Sollte das jedoch nicht der Fall sein... möchte ich dass du weißt, dass ich mit dir hätte alt werden wollen."

Mein Herz schlug wie verrückt und ich spürte förmlich, wie sich ein Wohlgefühl in mir ausbreitete. Das waren die Worte, auf die ich immer gehofft hatte, für jene mir der Mut selbst immer gefehlt hat. Hätte ich mich doch nur getraut, dann wäre uns jetzt viel mehr Zeit übrig...

Mir kullerte eine einzelne, kalte Träne über die Wange und ich lächelte. Er strich sie mit seinem Daumen weg und nahm mein Gesicht sanft zwischen seine Hände. "Ich liebe dich auch, Joe. Mit ganzem Herzen," flüsterte ich und dann küsste er mich. Es war ein zärtlicher Kuss und er zog mich näher zu ihm, so als könnte ich ihm gar nicht nah genug sein.

Als er sich langsam von mir löste und mich ansah, breitete sich ein zufriedenes Lächeln auf meinen Lippen aus. Seine Augen strahlten und ich konnte nicht anders, als noch weiter zu grinsen. Er strich eine meiner Haarsträhnen sanft hinter mein Ohr zurück und nahm meine Hand. "Dann wollen wir mal," sagte er und lächelte.

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Nachdem wir gefrühstückt hatten und seiner verwunderten Mutter erklärt hatten, dass wir nun ein Paar wären, machten wir uns auf den Weg zu einem kleinen Flugplatz nahe unserer Schule (die mittlerweile kein Mensch mehr besucht, wegen - naja - der Apokalypse). Als wir dort ankamen und uns ein großer, etwas älterer Mann zu einem der kleinen Flugzeuge führte, verspürte ich ein aufgeregtes Kribbeln im Bauch.

Wir bekamen Anweisungen und uns wurde ein Anzug mit unserem Fallschirm ausgehändigt. Wir zogen ihn an und stiegen in das Flugzeug. Als es startete, nahm ich Joes Hand. Obwohl ich immer davon geträumt hatte, war ich jetzt nervös.

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Nun waren wir auf der richtigen Höhe und uns wurde gezeigt, dass wir uns zur Tür stellen sollten. Ich wagte einen Blick nach draußen. Es war wunderschön, die Sonne strahlte an einem hellblauen Himmel und unter uns waren Felder nur noch kleine, braune oder grüne Kästchen und die Häuser hatten sich in Punkte verwandelt.

Unser Begleiter zählte von 5 abwärts, Joe stand hinter mir, bereit zum Sprung. 3...2...1!

Ich sprang ab, streckte beide Beine und Arme aus, und begann zu fallen. Das Adrenalin schoss durch meinen Körper und ich fühlte mich frei. Als ich kurz meine Augen öffnete, sah ich Joe neben mir. Er nahm meine Hand und gemeinsam rasten wir auf den Boden zu, die Häuser und Felder immer größer werdend. Unser Begleiter schrie "jetzt". Wir öffneten die Fallschirme und wurden sofort ein Stück nach oben gezogen.

Joe ließ einen Schrei aus und ich lachte. Jetzt fühlte ich mich leicht wie eine Feder - obwohl ich das weiß Gott nicht war - und wir glitten langsam auf den Boden zu. Ich landete etwas unsanft, jedoch machte mir das nichts aus. Der Fallschirm fiel hinter mir auf das Feld und ich stand auf. Meine Beine fühlten sich an wie Butter, was kein Wunder war. Joe landete 5 Meter weiter und auch der Begleiter war nun am Boden.

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Nachdem wir zum Flugplatz zurück gebracht wurden und bezahlt hatten, fuhren wir in die Stadt um noch essen zu gehen. Wir bestellten zusammen eine Pizza, denn es war unser Lieblingsessen. Wir trafen uns jeden Freitag um uns einen Film anzusehen und Pizza wurde zur Tradition. Manchmal machten wir sie sogar selbst, jedoch endete das nie sonderlich gut. (Er hat jetzt einen Feuermelder...)

Wir redeten über unseren Fallschirmsprung und über eine Menge anderer Dinge. Wir bummelten danach noch etwas in der Stadt herum und gingen ins Kino um uns 'Jurassic World' anzusehen. Es war ein toller Film und wir redeten noch darüber, als wir längst wieder zuhause waren.

Als wir am Abend auf der Couch lagen, dachte ich noch nach. Was, wenn in zwei Tagen wirklich alles vorbei ist? Unsere schöne Welt einfach ausgelöscht wird, auf die selbe Weise, auf die überhaupt Leben entstanden ist? Man muss es akzeptieren. Und irgendwie versuchen, noch all das zu schaffen, was man gerne tun möchte, man sich bisher aber noch nicht getraut hat.

Ich schätze, es gibt verschiedene Arten, wie Menschen auf so eine Nachricht reagieren können. Es gibt diejenigen, die das Beste daraus machen möchten, und es gibt solche, die einfach aufgeben. Ich persönlich gehöre nicht zu denen, die sich kampflos ihrem Schicksal beugen. So war ich mein ganzes Leben nicht und ich werde es auch in meinem Tod nicht sein. Ich bin ehrgeizig und habe immer versucht, positiv zu denken, bin jedoch realistisch geblieben.

Meine Mutter hat dies immer als "gesunde Einstellung" und Erfolg ihrer Erziehung bezeichnet. Doch war es nicht so. Ich habe durch Fehler gelernt und bin durch schlechte Ereignisse so geworden. Ich habe nie aufgegeben, obwohl ich es gekonnt hätte. Doch wofür hätte ich dann gelebt? Alles hat seinen Grund, auch, wenn diese nicht immer erkennbar sind. Der Sinn des Lebens? Leben.