webnovel

Der Fall  

Kaiden, der dies nicht wahrhaben wollte, sagte leise mit tränenden Augen: „Hey, du bist jetzt doch nicht wirklich tot, oder?" Er streckte seine Arme in Richtung seines verstorbenen Freundes und rüttelte an dessen Schultern. „Hey, steh doch bitte wieder auf. Ich sagte, steh doch bitte auf! Bitte! Warum nur?", schrie Kaiden in Richtung Himmel, während Regentropfen und Tränen sein Gesicht benetzten.

 

Als sich seine Augen durch den Regen klärten und die Tränen weggewaschen wurden, erinnerte er sich, dass es noch nicht vorbei war. Der Regen hatte nachgelassen, und er konnte nun seine Umgebung klarer erkennen. Er hörte und sah andere Menschen, allerdings musste er zuerst an sich selbst denken. Er fragte sich, aus welcher Richtung der Tsunami nochmal kam? Er schaute nach rechts, nach links und dann nach hinten. Sein Herz schien stehen geblieben zu sein, und Kaiden erstarrte. Er konnte nicht begreifen, wie das sein konnte.

 

„Das ergibt keinen Sinn!", flüsterte er ängstlich. Der Tsunami war nicht 100 Meter hoch, nicht einmal 150 Meter, sondern knapp über 200 Meter. Doch Kaiden versuchte nach vorne zu blicken. Trotz seiner zitternden Beine und seiner schweren Atmung versuchte er, seine Umgebung zu analysieren. Er erkannte, dass der Tsunami etwa einen Kilometer entfernt sein musste.

 

Da er sich mit einer Geschwindigkeit von wahrscheinlich etwa 40 km/h auf den Wolkenkratzer zubewegte, hatte er nur etwa eine Minute Zeit, bis er den fast 300 Meter hohen Wolkenkratzer mitreißen würde.

 

Die schreckliche Erkenntnis war, dass der Tsunami plötzlich die doppelte Höhe erreicht hatte. Wäre er nur 100 Meter hoch gewesen, hätte der Wolkenkratzer vielleicht noch eine Chance gehabt, zumindest der stabilere untere Teil. Aber jetzt würde die gewaltige Flut etwa zwei Drittel des Wolkenkratzers ausmachen und sicherlich den instabilen oberen Teil mitreißen, als wäre er aus Spielzeugsteinen gebaut.

 

Kaidens Überlebenschancen sanken von etwa 50% auf den sicheren Tod. Während er diese Gedanken mit sich trug, versuchte er verzweifelt, am Rand entlang in der Tiefe nach einem bestimmten Ort zu suchen. Wenn er diesen finden könnte, könnte er seine Überlebenschancen vielleicht um ein paar Prozent erhöhen und ein Fünkchen Hoffnung behalten.

 

Obwohl seine Beine fast aufgegeben hatten, liefen sie weiter. In dieser Situation durften sie nicht aufgeben. Kaidens Herzschlag beschleunigte sich dramatisch, und er rannte verzweifelt dem letzten Funken Licht hinterher. „Es muss hier irgendwo sein, ich weiß es, aber wo?", dachte er. Schon fast 40 Sekunden waren vergangen, und anstelle des leichten Regens und des zischenden Winds hörte er eine herannahende Flut.

 

Aber Kaiden ließ sich nicht davon ablenken. Er rannte mit schwerem Atem weiter und weiter. Die Sekunden verstrichen, und der Tod schien wieder dicht hinter seinen Füßen zu lauern. Er rannte und rannte, doch der rettende Ort schien nicht in Sicht. Er gab jedoch nicht auf, er rannte am endlos erscheinendem Abhang weiter entlang.

 

Plötzlich hörte er einen lauten Knall, welcher einer Granate ähnelte, und es schien, als würde mehr Regen von oben auf ihn einprasseln. Doch es war kein Regen, sondern das salzige Meereswasser, das vom Aufprall mit dem Wolkenkratzer nach oben geschleudert wurde. Kaiden fragte sich, ob der Wolkenkratzer den Aufprall überstehen hätte. Aber der Schein trügt. Innerhalb einer Sekunde schien der obere Teil vom unteren abzureißen, und der Boden änderte seine Position von waagerecht zu senkrecht.

 

Kaiden war schockiert. Sein Herz schien stehen geblieben zu sein, und er stand wie gelähmt da. Doch als ein kleiner Teil des eiskalten Wassers leicht über seinen Körper spritzte, erwachte er wie aus einem Albtraum. Ohne zu zögern griff Kaiden nach der Stange am Rand und zog sich hoch.

 

Der obere Teil des Wolkenkratzers drohte einzustürzen, aber Kaiden zögerte nicht einen Moment und sprang einfach von der höchsten Stelle in die Tiefe. Während er durch die Luft flog, weiteten sich seine Augen vor Erleichterung und Hoffnung. Nicht nur wegen des starken Winds und des Widerstands, der seine Augenlider hochdrückte, sondern weil er endlich den Ort sah, den er zum Überleben brauchte: den Park.

 

Das Einzige, was er jetzt machen musste, war in diese Richtung zu steuern und sich von den Bäumen bremsen zu lassen. Kaiden, der plötzlich Hoffnung schöpfte, schloss seine Arme und Beine so nah wie möglich an seinen Körper. Obwohl es schwierig war, seinen rechten Arm zu bewegen, versuchte er sein Gewicht nach rechts zu verlagern, da dort die leuchtend grünen Bäume auf ihn warteten.

 

Wie gedacht bewegte er sich langsamer als geplant in seine gewünschte Richtung, aber es schien auszureichen. Die Zeit schien erneut stillzustehen. Ob dies ein gutes Omen für Kaiden war, wusste er nicht, aber er war entschlossen, um jeden Preis zu überleben.

 

Der plötzliche Wind, der vom vorherigen Sturm herrührte, erinnerte Kaiden schmerzlich an seine kalte und durchnässte Kleidung. Doch das war jetzt sein geringstes Problem. Der Wind stieß gegen seine Bewegungsrichtung und verlangsamte ihn weiter. Er wusste, dass er sich jetzt ausbreiten musste, da er sonst zu schnell auf den Boden zusteuerte und die Bäume ihm dann nicht mehr helfen würden.

 

Kaiden breitete seine Arme und Beine aus wie ein Käfer, der auf dem Rücken liegt, und schien rapide an Geschwindigkeit zu verlieren. Ein extremer Widerstand verursachte fast einen Hustenanfall, aber er durfte sich in diesem entscheidenden Moment nicht ablenken lassen. Nur noch wenige Dutzend Meter trennten ihn von der Erdoberfläche.

 

Er fiel und fiel, doch plötzlich erhielt er einen erneuten drastischen Schub in Richtung der Bäume, fast schon zu viel. Es schien, als würde er sein Ziel beinahe verfehlen. Doch glücklicherweise war nun alles perfekt. Die Bäume, die teilweise aus dem Boden gerissen wurden, bildeten eine perfekte Abfederung, und das Ausbreiten seiner Arme und Beine erwies sich als äußerst nützlich.

 

Er fiel immer noch schnell Richtung Boden, aber es fühlte sich an, als würde er in Zeitlupe schweben. Jetzt war es Zeit, sich auf die bevorstehende Landung vorzubereiten. Kaiden änderte seine Haltung von waagerecht, um mehr Widerstand gegen den Wind zu bieten, in eine senkrechte Position. Er streckte seine Beine gerade aus, um somit den Großteil des Aufprallwiderstands abzufangen.

 

Er musste nur darauf achten, seinen Kopf und Nacken mit seinen Armen zu schützen. Er griff mit dem linken Arm in einem 45-Grad-Winkel um die linke Seite seines Kopfes, doch seine rechte Hand wollte sich keinen Zentimeter rühren.

 

Er versuchte schließlich, zumindest seinen linken Ellbogen nach innen zu beugen, um einen sicheren Halt zu finden. Kaiden verlagerte anschließend sein Gewicht leicht nach links, und seine linke Handfläche schützte seinen Hinterkopf nun vollständig. Der Aufprall schien unmittelbar bevorzustehen, und Kaiden atmete ein letztes Mal tief ein.

 

Dann begrüßten Kaidens Füße die lindgrünen Frühlingsblätter des Baumes, gefolgt von den etwas dünneren und schmächtigeren, in gebrannten siena gefärbten Ästen. In Bruchteilen einer Sekunde folgten Schnittwunden über Schnittwunden, die sich über Kaidens gesamten Körper erstreckten. Es fühlte sich an, als würde er durch eine Wiese mit langen Klingen laufen, aber dann kamen die größeren Äste.

 

Diese Schnittwunden waren keine Ergebnisse von Küchenmessern mehr, sondern von echten Sägemessern. Der Schmerz war unvorstellbar, aber er zahlte sich aus. Es waren nur noch ein Dutzend Meter bis zum Boden, und seine Geschwindigkeit verlangsamte sich um einiges.

 

Er fiel und fiel, aber nun folgten die 30 bis 50 Zentimeter breiten Abzweigungen des Baumstamms. Kaiden wusste, dass dies Schmerzen und Opfer erfordern würde, aber die Realität übertraf seine schlimmsten Albträume. Der Aufprall seiner Beine auf diese Abzweigungen fühlte sich an wie tausende von Schlägen, von denen jeder einzelne ausreichte, um mehrere Brüche zu verursachen.

 

Kaiden wurde wie eine Puppe von einem verspielten Kleinkind herumgeschleudert, zuerst gegen seine Beine, dann gegen seinen Rücken und schließlich gegen seine Brust. Seine Geschwindigkeit verlangsamte sich extrem, und es fühlte sich an, als wäre er im Vergleich zu zuvor schwerelos. Doch der Schein trügt. Die letzten Meter wurden in einem Augenblick durchlaufen, und er landete auf dem Boden.

 

Doch warum war es so kalt? „Verblute ich etwa? Wofür der ganze Tumult und der Schmerz?" fragte er sich. Doch dann wurde ihm klar, dass es kaltes, eiskaltes Meerwasser war. Seine Augen begannen zu brennen, und er sehnte sich nach Luft. Seine Brust und seine Lunge hatten einiges durchgemacht, aber zu seinem Bedauern hatte er nur einen funktionierenden Arm. Der Rest seines Körpers schien völlig gebrochen oder betäubt.

 

Kaiden fuchtelte verzweifelt mit seiner linken Hand, um nach frischer Luft zu greifen, doch es schien aussichtslos. Anstatt in die Höhe zu gelangen, sank er tiefer. Der Drang nach Luft wurde immer stärker, und er konnte es nicht mehr lange aushalten. Sein Mund reagierte fast automatisch, auch wenn sich Kaiden innerlich dagegen wehrte.

 

Seine Lunge, die nach Sauerstoff lechzte, bekam stattdessen versalzenes Wasser serviert. Das Meerwasser verbreitete sich innerhalb von Sekunden in seiner gesamten Lunge. Es war ein stechendes, zerreißendes Gefühl, und Kaiden drohte, seinen lautesten Schrei von sich zu geben. Doch stattdessen herrschte plötzliche Stille.

 

Ein erlösendes Gefühl breitete sich kurz darauf in seiner Brust aus. Was folgte, war ein scheinbar lebloser Körper in einem einsamen, dunklen Becken voller versalzenem Wasser.

 

Der Tod streckte seine längliche Sense aus und zog die hilflose Seele mit sich.