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Die Sehnsucht zu leben

Im Schatten des Mondlichts, das durch die Glasscheiben streifte, saß eine junge Frau auf einem schlichten weißen Bett und blickte zum Fenster hinaus. Das war ihre einzige Verbindung zur Außenwelt. Ein einziges Fenster, durch das sie die Strahlkraft des Mondes, das leise Vorbeiziehen der Wolken und die sanfte Wärme der Sonne genießen konnte.

Gefangen in einem kleinen Raum, umgeben von makellos weißen Wänden und einer schweren Eisentür, die ihr den Ausgang verwehrte, herrschte vollkommene Reinheit.

Die Augen des Mädchens waren leer und starrten auf das Fenster. Die Bruchstücke ihres Verstandes verbargen sich in einem Traum von einem verzauberten See, von kristallklarem Wasser, das die Welt in atemberaubender Schärfe widerspiegelte, von den sanften Strahlen der Sonne und dem weichen Umschlingen der klaren weißen Wolken. Sie lauschte dem Lachen im Frühlingswind, während ein Mädchen seine Familie beobachtete. Zarte Lächeln schmückten ihre Gesichter, ihre Liebe war grenzenlos wie die Meere.

Sie hätten ihr die Welt zu Füßen gelegt.

Doch genau wie das Spiegelbild auf dem Wasser war auch das nur eine Illusion des Lichts. Ein einziger Tropfen, eine einzige Erkenntnis zerstreute die Täuschung mit unzähligen Wellen.

Das Mädchen zitterte kaum merklich. Das Gefühl löste in ihr gleichermaßen Angst und Freude aus. Doch sie konnte nicht verhindern, dass ihr Geist in den abscheulichen Abgrund der Erinnerungen in ihrem Inneren stürzte.

Es war ihr zehnter Geburtstag. Der Geburtstag der jüngsten Tochter der angesehenen Familie Zenia, einem Adelshaus von hohem Rang.

Gaben türmten sich soweit das Auge reichte, Lobesworte ließen ihren Kopf mit Stolz und Freude erblühen... während im Verborgenen politische Intrigen gesponnen wurden.

Sie hörte nur das Geräusch von Panik, Schreien und Weinen. Sie verstand nicht, was damals geschehen war. Alles, was sie sah, war das Verschwinden der Liebe und Verehrung aus den Augen ihrer Familie, ihrer Bediensteten und ihrer Wächter.

Die Liebe war fort.

Man erzählte ihr schöne Lügen und zwang sie in einen Raum voll großer, weiß gewandeter Gestalten. Fremde, die sie auf einen Tisch pressten, mit Metallschneiden an ihrem Körper schnitten, ihr Fleisch durchtrennten, ihr Blut abzapften bis sie vor Schwäche umfiel und ihren Körper mit unzähligen Nadeln und Schläuchen schändeten.

Ihre Hilferufe, Tränen der Furcht und des Flehens prallten auf taube Ohren ab. Das freundliche Lächeln ihres Vaters, die Zärtlichkeit ihrer Geschwister – nichts davon war zu spüren.

Sie blickten nur mit kalter Gleichgültigkeit zu.

Verwirrung erfüllte ihren Geist. Warum unternahm niemand etwas? Warum ließen sie zu, dass Fremde sie zerstückelten? Warum sahen sie sie nicht mehr mit Zuneigung an? Was hatte sie all das verdient?

Sie weinte, bis ihre Stimme verstummte, lautlos schrie und ihre Tränen versiegten. Doch sie hörten nicht auf. Nachdem das Experiment beendet war, wurde sie in einem weißen Raum zurückgelassen. Ihre Verbände waren von ihrem eigenen Blut durchtränkt, ihr Körper drohte auseinanderzubrechen.

Schmerz, Verwirrung und Angst nagten an ihrem Verstand, unzählige Fragen trieben sie durch ein Labyrinth des Wahnsinns.

Die Sonne ging unter und der Mond erhellte ihr Zimmer. Nahrung wurde hineingestellt, doch sie hatte keine Kraft sich zu rühren. Sie hoffte, dass dies alles nur ein Alptraum war, eine selbst erschaffene Hölle.Aber es war die Realität. Der Tag brach an, und die Experimente gingen weiter. Sie schlug um sich, trat zu, versuchte zu fliehen. Doch es war zwecklos. Die Angst vor dem nächsten Experiment, die Angst davor, wie scharfe Klingen ihre Haut durchschnitten, die Angst vor ihrem Vater, der zusah, wie sie in den Wahnsinn abglitt, ohne ihr auch nur die Hand zur Hilfe zu reichen.

Tische, Stühle, das Bett, sogar die Wände. Sie versuchte, sich selbst zu verletzen, aus Rebellion, nur um dem Schmerz der Experimente zu entgehen. Aber sie überlebte. Die Wände wurden durch weiche Materialien ersetzt, Tische beiseitegeschafft, und unter dem Vorwand des Schutzes wurden ihr Fesseln um Hand- und Fußgelenke gelegt, ihre Freiheit raubend.

Als sie immer tiefer in den Wahnsinn sank, entdeckte sie die Wahrheit. Diese war ihr offenbart worden, um ihr die Selbstverletzung auszutreiben und ihre Kooperation zu erlangen.

Sie war eine Mutation.

In ihrer Gesellschaft existierte eine Substanz, die die Welt so revolutionierte, dass selbst Kinder von ihrer Anziehungskraft lernten.

Das Abyss-Blut.

Eine Substanz, die im Körper von Bestien gefunden wurde, die aus dem Abgrund stammten, einer Welt, die ihre eigene wie ein Spiegelbild reflektierte.

Jede Injektion des Abyss-Bluts verlieh dem Empfänger übernatürliche Fähigkeiten, die über das bekannte Wissen hinausgingen. Manche konnten höher als zweistöckige Gebäude springen, andere Feuerwellen ausspucken. Einige konnten dich vom Rande des Todes zurückholen, andere machten dich zu einer Kriegswaffe, die mit konventionellen Waffen nicht zu stoppen war.

Medikamente, Transportmittel, alltägliche Anwendungen – das Abyss-Blut ließ die Zivilisation in ein goldenes Zeitalter aufblühen.

Abyss-Blut stärkte den Körper und floss durch die Maschinen, die sich durch die Städte zogen. Ihre Gesellschaft war von dieser Substanz abhängig.

Doch es gibt nichts umsonst. Mit größeren Vorteilen kamen auch größere Risiken. Es bestand stets die Möglichkeit, dass der Abgrund die Gewährungen zurückforderte und dich zu einer seiner vielen Figuren machte.

Verformungen des Körpers, Veränderungen des Geistes und selbst die vollständige Verwandlung in eine Abyss-Bestie waren möglich. Deshalb würden nur wenige ungetestetes Abyss-Blut injizieren, egal wie verführerisch die Versuchung auch war.

Das änderte sich jedoch mit der Enthüllung ihrer Mutation an ihrem Geburtstag. Eine rivalisierende Familie unternahm ein Attentat auf sie, Zenias jüngste Tochter.

Ein Fläschchen mit einem Blut so mächtig, dass es jeden in eine blutrünstige Bestie verwandeln konnte. Als sie es am wenigsten erwarteten, wurde es Alice injiziert, und sie wütete unter den Gästen.

Sie wurde zu einem missgestalteten Schimärenwesen, das darauf aus war, alles zu zerstören, was sie erreichen konnte. Ein Abyss-Wesen, das dazu verdammt war, durch die Hände der Jäger zu sterben.

Doch dann kehrte sie zurück. Ihr Körper erholte sich und sie wurde wieder menschlich.

Eine Unmöglichkeit wurde bezeugt.

Es wurde entdeckt, dass ihre Mutation ihr die Fähigkeit verlieh, den Effekten des Abyss-Bluts zu widerstehen. Egal was man testete, egal welche Nebenwirkungen auftraten, sie erholte sich. Sie, die merkwürdigerweise immun gegen das Abyss-Blut war, würde die dauerhaften Auswirkungen nicht erfahren. Egal ob gut oder schlecht.Und so setzten sie die Tests ungehemmt fort. Mit der Erlaubnis des Familienoberhaupts, Alices Vater, durften sie an ihrem Fleisch reißen, solange sie lebte.

Alice war ein Segen für die Familie Zenia. Ihre Mutation ermöglichte es ihnen, zu einer adeligen Familie aufzusteigen, die für ihre Forschung am Abgrund-Blut bekannt war. Sie brachten Innovationen hervor, beleuchteten verborgene Effekte und stellten Medizin für die Kirche des Mondes bereit.

Alice war ein Geschenk des Wissens, ein Weg, die Geheimnisse des Abgrund-Blutes zu verstehen. Sie war ein Geschenk von den unsichtbaren Göttern, die über diese Welt wachten.

Sie erkannte, dass sie für immer in einem Kreislauf gefangen sein würde, in dem ihr Körper für andere geopfert wird.

Sie versuchten, sie davon zu überzeugen, dass das Leiden eines Einzelnen der Welt zugutekommt. Doch warum sie? Warum musste es ausgerechnet sie sein? Sie hatte nie darum gebeten.

Aber die Experimente hörten nie auf, und sie begann, ihr Leben zu verabscheuen. Sie konnte die Menschen, die sie zerstückelten, nicht verletzen, sie konnte ihrem Vater und ihren Geschwistern nicht wehtun, die teilnahmslos zusahen. Also fasste sie den Entschluss, dem Ganzen ein Ende zu setzen. Wenn sie alles beendete, müsste sie nicht mehr leiden. Kein Schmerz mehr, keine Angst mehr.

Keine leeren Blicke und hasserfüllten Blicke mehr von ihrer Familie. Sie wäre frei.

Ein Schmerzensschuss, ein Schwall an Lebenskraft.

Ihre Augen weiteten sich, sie war immer noch in diesem Raum. Ihr Selbstmordversuch war gescheitert und als Reaktion darauf wurde ihr ein Halsband umgelegt. Ein Gerät, das durch das Abgrund-Blut entwickelt wurde, um sie am Leben zu erhalten.

Sollte ihr Herz nicht mehr schlagen, würde eine Dosis heilendes Abgrund-Blut sie zurück ins Leben holen. Egal, wie sehr sie sich selbst verletzte oder welche Methode sie anwandte, sie würde immer wieder zum Leben erweckt werden.

10 Winter. So lange hatte sie ihr Leben in diesem Raum verbracht.

10 Jahre der Liebe, 10 Jahre des Hasses.

Als sie mit der Hand über ihren Kragen strich, flackerten albtraumartige Szenen in ihrem Kopf auf. Zeiten, in denen ihr Fleisch aufgeschnitten wurde, um ihre Knochen und Adern freizulegen. Momente, in denen sie mit Entsetzen und Schmerz zusah, wie man ihr ein Organ nach dem anderen entnahm, um die Wirksamkeit des heilenden Abgrund-Blutes zu testen.

Das Gefühl, ihr die Augen auszustechen und sie wochenlang blind zu lassen. Der Hass ihrer Geschwister, wenn sie auf sie einschlugen, der Moment, in dem ihre Wut in Freude überging, indem sie sie leiden sahen.

10 lange Jahre hegte sie ihren Zorn und Hass, auf den Moment wartend, endlich aus diesem Raum entkommen zu können. Das war ihr einziger Antrieb gewesen.

Da der Tod nun unerreichbar war, konnte sie sich nur noch an der schwachen Hoffnung auf Rache festhalten, um ihren Willen am Leben zu erhalten. Allen Schmerz, den sie fühlte, all ihre Qualen, wollte sie zurückgeben. Doch sie war am Ende ihrer Kräfte, ein Ende war nicht in Sicht, wie sollte sie sich wehren?

Immer dann, wenn sie sich betäubt fühlte, wenn ihre Rachegefühle nachließen, wollte sie alles beenden, nur um erneut den Hauch des Lebens zu spüren. Ihr Leben würde aufs Neue entflammen und ebenso ihr Verlangen zu jagen und zu töten.Der Klang von schabendem Metall hallte durch die leere Enge ihres Zimmers. Die Tür, die ihren Ausweg versperrte, öffnete sich, doch Freiheit und Neugier kamen ihr nicht in den Sinn. In dem Glauben, es sei eines ihrer Geschwister, das seinen Ärger an ihr auslassen wollte, saß Alice regungslos auf dem Bett.

"Was zum Teufel ist hier los?" Eine Stimme erklang, ärgerlich im Tonfall.

Sie war ihr unbekannt.

Als sie schließlich ihren Blick zur Tür wandte, sah sie einen großen, seltsamen Mann, der eine Jacke mit Rabenfedern trug. Mit einem Tritt schob er die schwere Eisentür beiseite, als wäre sie nichts.

Bei seinem Eintritt wirbelten Schatten bei jedem seiner Schritte um ihn herum. Sie schienen sich nach ihm auszustrecken, als wollten sie seine Gestalt ehrfürchtig umfangen. Unter seiner Jacke trug er eine schlichte schwarze Kleidung, die zu ihm passte. An seinen Händen trug er Handschuhe, von denen frisches Blut tropfte und den Boden in einem Rotton befleckte, der Alice seltsam ansprach. Seine scharfen Augen musterten den Raum, bevor sie auf ihr ruhten.

"Hou? Was haben wir denn hier?" In seiner Stimme lag eine Mischung aus Neugier und Amüsement.

Als er aus dem Türrahmen trat, offenbarte er sich Alice. Langes schwarzes Haar, das bei jedem Schritt schwankte, wild und widerspenstig wie sein Auftreten. Ein Paar kalte schwarze Augen musterten sie von oben bis unten, bevor sie zu ihrem Hals wanderten, wo ein fest sitzendes Halsband um ihre zarte Haut lag.

"Du bist aber eine Merkwürdige. Ich sah Wachen, die diesen Ort umzingelten und den Zugang verwehrten, also dachte ich, sie würden irgendeinen Schatz verbergen. Stattdessen finde ich nach all den Mühen, die ich auf mich nehmen musste, um hierher zu gelangen, nur ein eingesperrtes, geknebeltes Mädchen. Wer zum Teufel braucht so viele Wachen und Verteidigungen für ein einfaches Mädchen?" beschwerte er sich und kratzte sich verärgert am Kopf.

Er verengte seine Augen, als er Alice betrachtete, und fragte sich, warum sie an einem solchen Ort eingesperrt war.

Alice wollte fragen, wer der Mann war, aber ihre Stimme versagte. Es war, als würde sie von einem Wesen angestarrt, das in ihrem Herzen ein Urgefühl der Angst auslöste.

Als der Mann etwas Merkwürdiges bemerkte, zog er die Stirn in Falten und beugte sich näher zu ihr.

Langsam huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Er sah etwas Tiefes in ihren Augen.

"Du scheinst nicht hierbleiben zu wollen. Träumst du von der Außenwelt?" fragte er. Seine Stimme klang lockend und verführerisch.

Seine Worte ließen sie erstarren. Für einen Moment wurde die Vernunft vergessen, und der Wahnsinn begrüßte sich in ihrem Herzen. Ein seltsames Gefühl stieg in ihr auf. Es fühlte sich erstickend und schlammig an, wie Galle, die in der Kehle steckt. Es brannte in ihr.

"Also…" fragte er. "Willst du diese Hölle verlassen und sie gegen eine andere eintauschen?"

Sie nickte.

Das Feuer der Rache brannte hell in ihrem Herzen.

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