Während sie ihren kranken Großvater ins Bett brachte, aß Oriana das restliche Brot und holte eine Schüssel mit Wasser aus dem Fass draußen. Dann ging sie in ihr eigenes Zimmer, um sich frische Kleidung anzuziehen. Nachdem sie die Kerze an der Seite angezündet hatte, nahm sie das lange Tuch ab, das sie sich um den Kopf gewickelt hatte, und befreite ihr langes Haar von seinem engen Dutt.
Danach reinigte sie sich mit einem feuchten Tuch, wobei ihre zarte und weiche Haut zum Vorschein kam. Sie band ihr langes Haar locker mit einem Band zusammen und zog ihre weite Kleidung aus. Ihre Hände arbeiteten dann schnell an dem Stoff, der um ihre Brust gewickelt war, um die Spitzen zu verbergen und ihre wahre Gestalt nicht zu verraten.
Von den Fesseln befreit, streckte sich eine Silhouette mit einer weiblichen Figur gegen die Holzwände des Raumes.
Obwohl sie schon seit drei Monaten im Dorf lebten, hatte noch niemand entdeckt, dass Oriana ein Mädchen war. Durch ihre Art zu sprechen oder zu handeln hatte sie die Leute gründlich davon überzeugt, dass sie nur ein hübscher Junge war, der noch nicht in die Pubertät gekommen war, obwohl sie in diesem Jahr zwanzig wurde.
Aufgrund ihrer Lebensumstände wurde sie von ihrem Großvater als Junge aufgezogen, und wenn ihr Körper und ihr Name nicht wären, hätte selbst Oriana ihr wahres Geschlecht vergessen.
In frischen Kleidern streckte sie gemächlich ihren Nacken und ihre Glieder, bevor sie ins Bett plumpste. Als sie sich auf der dünnen Matratze zusammenrollte, bemerkte sie, dass ihr Gesicht von einer Masse rotbrauner Haare bedeckt war. Sie kämmte es mit den Fingern weg.
"Ich wusste gar nicht, dass mein Haar so lang geworden ist. Soll ich es abschneiden?" Sie spielte müßig mit einer Strähne. "Es ist weniger lästig, es kurz zu halten, aber ich bringe es nicht übers Herz, es zu schneiden. Sie ist weich genug, um als Kopfkissen zu dienen."
Als sie auf dem Bett lag, konnte sie nicht anders, als für ihre freundlichen Nachbarn dankbar zu sein. Es beruhigte sie, dass es Menschen gab, denen sie vertrauen konnte, die sich um ihn kümmerten, auch wenn sie nicht da war.
Als sie daran dachte, morgen loszuziehen, wurde Oriana schmerzlich an das Messer erinnert, das sie an diesen Taugenichts namens Arlan verloren hatte.
Sie erinnerte sich an die Worte ihres Großvaters.
'Dieses Messer ist eines unserer Familienerbstücke. Ich schenke es dir, weil du heute deinen zehnten Geburtstag hast. Es wird dir helfen, dich von Albträumen fernzuhalten.'
Sie biss die Zähne zusammen, als sie sich an die Arroganz dieses Adligen erinnerte.
Seit dem Tag, an dem Großvater es mir geschenkt hat, habe ich es nie mehr aus der Hand gelegt, aber wegen diesem Balg.... schlafe ich zum ersten Mal seit Jahren ohne dieses Messer. Ich kann nur beten, dass ich diese Alpträume nicht bekomme, aber...", seufzte sie. 'Ertrage es einfach eine Nacht lang. Morgen werde ich es mir von ihm zurückholen.'
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In der gleichen Nacht wälzte sich Arlan unruhig im Bett. Eine dünne Schweißschicht bedeckte seine Stirn, seine Hände umklammerten das Bettlaken, seine Brauen waren in Falten gelegt, als würde er eine unangenehme Erinnerung sehen.
"Mutter, wo bist du ...?"
Ein kleiner Junge, etwa fünf oder sechs Jahre alt, lief mitten in der Nacht einen leeren Flur des Palastes entlang und suchte nach seiner Mutter. Es war ungewöhnlich still, kein einziges Dienstmädchen oder ein Ritter war zu sehen. Als der Junge das Gemach seiner Mutter betrat, wurde er Zeuge der schrecklichsten Szene, die ein Kind sehen konnte.
Ein maskierter Mann hielt ein Schwert in der Hand, das den Bauch seiner Mutter durchbohrte.
"Mutter!!!", schrie der Junge.
Als der maskierte Mörder den Jungen sah, war seine erste Reaktion, den Zeugen zu töten. Es gelang ihm jedoch nicht, seine Waffe aus ihrem Körper zu ziehen - die Frau packte den Griff mit der Kraft einer Mutter, die um das Leben ihres Kindes fürchtet. Nach diesem kurzen Wortwechsel konnte der Attentäter nur noch aus dem Fenster fliehen.
Der Junge, der vor Schreck erstarrt war, konnte nur hilflos zusehen, wie seine Mutter auf dem Boden zusammenbrach, ohne dass ihr Blick den seinen verließ.
In den leblosen Augen standen Tränen der Schuld und der Erleichterung - Schuld, weil sie ihren kleinen Sohn sich selbst überlassen hatte, und Erleichterung, weil sie ihn beschützt hatte, wenn auch zum letzten Mal.
Es war eine Erinnerung, die sich für immer in das Gedächtnis des kleinen, unschuldigen Jungen einbrennen würde.
Der Junge wollte nach seiner Mutter greifen, doch plötzlich verschwand alles um ihn herum, und der weinende Junge fand sich erschrocken am Rande einer Klippe wieder.
Bevor er die Situation begreifen konnte, riss ihn ein Windstoß von den Füßen. Ein riesiges fliegendes Wesen mit feuerroten Augen ragte über ihn hinweg. Die Kreatur war so riesig, dass er nur diese Augen sehen konnte, obwohl goldene Schuppen in der Dunkelheit zu flackern schienen.
Ein ohrenbetäubendes Gebrüll kam aus dem Maul der Kreatur und ließ ihn die Kante hinunterstürzen. Der kleine Junge konnte nur verängstigt um sich schlagen, als er immer tiefer in die endlose Dunkelheit fiel.
Ein Gefühl überwältigender Verzweiflung erfüllte den jungen Arlan, denn aus irgendeinem Grund wusste er, dass ihn am Boden der Tod erwartete...
"Kleine Blume, hab keine Angst."
Eine beruhigende Frauenstimme holte ihn aus der Dunkelheit und hüllte ihn in eine wohlige Wärme. Seine Umgebung war ein Fleck aus sanften Farben, und er fühlte sich sehr wohl, als er ihr melodiöses Lachen hörte.
"Hast du mich vermisst, kleine Blume?"
Er spürte, wie sie seinen Kopf streichelte. Eine süße Stimme, eine sanfte Berührung, aber er konnte das Gesicht ihrer Besitzerin nicht sehen.
"Freust du dich, mich zu sehen?"
Es war ein einseitiges Gespräch. Nur die Frau konnte sprechen, und Arlan sah sich außerstande, zu antworten. Aber er war zufrieden, als wäre es die natürlichste Sache der Welt, ihr zuzuhören.
Doch das Glück währte nur kurz.
Die Frau wurde von der Dunkelheit verschlungen, ließ ihn hilflos und allein zurück. Der Boden unter ihm gab nach. Diesmal gab es niemanden, der ihn retten konnte. Er stürzte in den Tod.
Arlan erwachte, wie ein Ertrinkender, der nach Luft schnappt. Sein ganzer Körper war schweißgebadet, sein Atem ging unregelmäßig, und mit zitterndem Körper zwang er sich, im Bett aufzusetzen und sein Gesicht in die Hände zu vergraben.
Als er seine Gefühle wieder im Griff hatte, lehnte er sich ans Kopfteil und schloss die Augen.
'Es ist so lange her, dass ich diesen Albtraum hatte.'
Eine Erinnerung, die ihn seit seiner Kindheit heimsuchte. Er ballte die Fäuste, als Wut tief in seinem Herzen aufzulodern begann.
'Mutter, ich werde sowohl den Mörder als auch denjenigen finden, der dich töten lassen wollte. Ich werde nicht ruhen, bis sie leiden. Sie werden mir lieber um den eigenen Tod flehen. Ich schwöre, sie werden es bereuen, auf dieser Welt geboren zu sein.'
Dies war nicht das erste und wahrscheinlich auch nicht das letzte Mal, dass Arlan von diesem Albtraum träumte. Obwohl der Schmerz über den grausamen Tod seiner Mutter nicht nachließ, erschütterte er ihn nicht mehr so, wie in jungen Jahren.
Seine Gedanken schweiften zu der weiblichen Stimme in seinem Traum.
'Wer mag sie sein? Immer wenn ich einen Albtraum habe, scheint sie da zu sein, um mich zu trösten.'
Diese Stimme gehörte weder zu seiner Mutter noch zu seiner Schwester, noch zu irgendeiner Frau des Palastes. Es war unmöglich, dass Arlan sich nicht an eine Frau erinnerte, die er getroffen hatte - eine Frau, die ihm so nahestehen würde, dass sie seinen Kopf berührt.
'Warum kann ich mich nicht an ihr Gesicht erinnern?'
Immer wenn sie in seinen Träumen erschien, war sie von Geheimnissen umgeben, nur ihre Stimme war sein Anhaltspunkt.
'Auch diese Frau muss ich finden. Wie kann ich die Frau ignorieren, die mich in meinen dunkelsten Stunden immer wieder tröstet?'
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Auf der anderen Seite des Waldes, in der Holzhütte eines namenlosen Dorfes, hatte Oriana sich zu einer Kugel zusammengerollt. Ihr Körper zitterte, sie hielt sich die Ohren zu, als wollte sie nichts hören.
Ein Ausdruck des Entsetzens färbte ihr Gesicht.
'Esmeray… Esmeray…'
Eine tiefe, bedrohliche Stimme, als ob sie aus dem Inneren einer Höhle käme, rief diesen Namen immer wieder, flüsternd, dann schreiend. Es war eine verwirrende Erfahrung, denn die Quelle der Stimme brachte die erdrückende Dunkelheit hervor, die sich um Oriana legte.
'Esmeray, kehre zu uns zurück. Du musst zurückkehren.'
'Kehre dorthin zurück, wo du hingehörst, Esmeray.'
'Verschwinde...', murmelte sie im Schlaf. 'Lass mich in Ruhe...'
'Esmeray, erwarte mich geduldig. Ich werde zu dir kommen... Es ist nur eine Frage der Zeit...'
'Nein, verschwinde... bitte...', murmelte sie weiter, während Tränen über ihre Wangen liefen. 'Verschwinde...'
Mit einem lauten Aufkeuchen erwachte Oriana, die Hände auf ihrer Brust, denn ihr Herz schlug so schnell, dass es ihr schmerzte.
Es war, als ob sie das erste Mal nach einem Erstickungsanfall wieder Luft schöpfte. Ihre langen Haare waren wirr, Oriana setzte sich im Bett auf, rieb ihre Arme und zitterte vor Angst an den Schultern.
'Dieser Albtraum schon wieder.' Sie atmete tief und gleichmäßig, um sich zu beruhigen. 'Wer ist dieser Mann, der mich ständig Esmeray nennt? Es fühlt sich nicht wie eine Erinnerung an, sondern wie jemand, der versucht, in meinen Träumen zu mir zu sprechen...'
Sie griff unter ihr Kissen, ihr Talisman war nicht da.
'Mein Messer, wo ist es...'
Da erinnerte sie sich daran, dass es ihr weggenommen worden war.
'Ich muss das Messer zurückbekommen. Ich hoffe, dieser noble junge Mann hält sein Versprechen und gibt es mir morgen zurück. Ich ertrage es nicht, jede verdammte Nacht diesen Albtraum zu haben.'
Es dauerte nicht lange, bis sie sich gefasst hatte. Sie legte sich zurück in die Laken und starrte auf die Holzbalken an der Decke. Sie konnte nicht schlafen – besser gesagt, sie wagte es nicht, die Augen zu schließen aus Angst, diese eindringliche Stimme wieder zu hören.
'Lass die Sonne früh aufgehen, lass den Morgen schnell kommen. Lass diese Dunkelheit bald verschwinden.'
'