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Liebste Schwester (2)

Als Adrienne sich schließlich beruhigte, schämte sie sich für ihr vorheriges Verhalten. Sie nahm auf Myrtles Couch Platz und wartete darauf, dass ihre Freundin aus der Küche zurückkam. Ihr Blick glitt durch den Raum. Es war nicht das erste Mal, dass sie hier war, doch sie war beruhigt, dass alles noch so war, wie sie es in Erinnerung hatte.

Trotz des Nachnamens Han lebte Myrtle alleine und hatte sich bewusst von der Han-Familie distanziert. Anders als Elise war Myrtle Han kein Kind aus einer Affäre. Ihr leiblicher Vater war in ihrer Kindheit gestorben und ihre Mutter hatte den Vater von Alistair geheiratet. Als Kind aus einer früheren Ehe wollte die Han-Familie sie nicht akzeptieren, gab ihr aber schlussendlich ihren Namen – unter der Bedingung, dass sie der Familie keine Schande machen dürfe.

Doch wegen einer Intrige von Elise wurde Myrtle ein Suchtmittel injiziert, das eigentlich für Adrienne bestimmt war. Seitdem war Myrtle süchtig und kämpfte schwer gegen ihre Begierden an. Adrienne konnte nur mit Schuldgefühlen zusehen, wie das Leben ihrer besten Freundin den Abgrund hinunterrutschte, und wie die Han-Familie Myrtle aufgrund dieser Ereignisse verstieß.

"Du bist heute so früh von zu Hause weg? Gab es Streit mit Camilla?" Adrienne hörte Myrtles Stimme aus der Küche. Der Duft des Kaffees, den ihre beste Freundin gerade kochte, erreichte ebenfalls ihre Nase. Im Gegensatz zu ihr, die Tee bevorzugte, mochte Myrtle den starken Geschmack und Geruch von Kaffee.

"Nein, aber ich habe heute Morgen Dad verärgert. Ich habe sie an den Besuch meiner Großeltern an diesem Wochenende erinnert. Camilla könnte ja vergessen haben, dass sie noch nicht wirklich ein Teil der Jiang-Familie ist", antwortete sie gelassen und entlockte Myrtle damit ein lautes Lachen.

Myrtle kehrte mit zwei Bechern in den Händen zurück und reichte Adrienne einen, bevor sie sich neben sie auf die Couch fallen ließ.

"Du weißt, dass Elise dir das nicht einfach durchgehen lassen wird", bemerkte Myrtle, während sie an ihrem warmen Getränk nippte.

"Sie darf es gerne versuchen, aber wer weiß, wann ihr das Glück ausgeht", gab Adrienne spöttisch zurück und beobachtete Myrtle genau. Es war für sie kaum zu glauben, dass sie wieder so mit Myrtle sprechen konnte.

Nach Myrtles Tod fühlte sich Adrienne viele Jahre lang, als wäre sie wirklich allein gewesen. Diese Verbindung zu Myrtle war einzigartig und niemand hatte es geschafft, ihre beste Freundin zu ersetzen. Wenn sie nicht versprochen hätte, sich nach dem Tod ihrer Mutter und Myrtles Tod um Dylan zu kümmern, hätte Adrienne ihr eigenes Leben beendet, um ihnen zu folgen.

Myrtle setzte ihre Tasse ab und blickte Adrienne einen Moment lang an.

"Was?" Adrienne sah sie fragend an.

Ihre beste Freundin schüttelte den Kopf und lächelte.

"Ich bin einfach erleichtert, dass du nicht mehr in Selbstmitleid versinkst. Manchmal wünschte ich, ich hätte als 'Junge Miss Han' gelebt. Vielleicht hätte ich dir das Leben leichter machen können, wenn ich es getan hätte."

Bei diesen Worten zuckte Adrienne zusammen. War sie in der Vergangenheit wirklich so töricht gewesen? Hatte sie unaufhörlich geklagt und gejammert, sich aber geweigert, ihrem Elend ein Ende zu setzen? Hatte sie wirklich gedacht, dass sie, nur weil sie Alistair heiratete, sich auf ihn verlassen könnte, um all ihre Probleme zu lösen?Sie senkte beschämt den Kopf und erkannte, dass sie in der Vergangenheit Fehler gemacht hatte. Klagen brachte nichts – sie musste handeln, um den Lauf ihres Lebens zu ändern. Wenn alles beim Alten bliebe, warteten nur Tod und Tragödie auf sie.

"Nein… Junge Frau Han passt nicht zu dir. Wenn sie wüssten, zu was du fähig bist, würden diese alten Knacker einen Herzinfarkt bekommen", erwiderte Adrienne mit einem spöttischen Grinsen.

"He! He! Junge Frau Jiang, das verletzt mich! Wie kannst du so etwas zu mir sagen?! Es klingt, als wäre ich ein Rüpel, der nichts von Anstand und Moral versteht!" protestierte Myrtle und schmollte. Als Adrienne sie so sah, schimmerten Tränen in ihren Augen, doch sie blinzelte sie fort, denn sie wollte nicht, dass sich ihre beste Freundin Sorgen machte.

"Ich bezweifle, dass du es tust", sagte sie und erntete einen finsteren Blick von Myrtle. "Aber ich möchte, dass du glücklich bist und dein Leben vollständig lebst, Myrtle. Selbst wenn du zu Frau Han werden würdest, möchte ich nicht, dass du meinetwegen in Schwierigkeiten gerätst."

Myrtle sagte nichts, doch sie schien zu verstehen, was Adrienne meinte. Sie würde gezwungen sein, den Erwartungen aller zu entsprechen, und könnte Probleme bekommen, wenn sie sich mit Alistair Han messen würde. Seitdem ihre Mutter in die Familie Han eingeheiratet hatte, hielt sie sich fern von ihm, nachdem sie ihn ein paar Mal getroffen hatte. Außerdem verstand sie nicht, was Adrienne an ihm fand und warum sie so vernarrt in ihren verrückten Stiefbruder war.

"Hast du meinen Bruder etwa nicht gern? Wenn ihr zwei wegen mir heiratet, werdet ihr mir ewig verpflichtet sein."

Zwischen ihnen wurde es kälter, und Myrtle rieb ihre Arme und fragte sich, ob die Klimaanlage in ihrer Wohnung nun defekt war. Sie lebte seit etwa zwei Jahren hier und hatte bemerkt, dass sie manchmal nicht richtig funktionierte. Aufgrund dessen bemerkte Myrtle nicht die Kälte in Adriennes Augen.

"Du hast recht, Myrtle. Dein Bruder ist nichts für mich. Er und ich können nie zusammen sein", flüsterte Adrienne, ihr Blick wurde verschwommen, ihr Körper zitterte, als Erinnerungen sie überfluteten.

Nein... was auch immer geschehen mag, ihre Wege dürfen sich nie wieder kreuzen. Adrienne wollte das gleiche Höllenleben mit Alistair Han niemals wieder erleben. Wenn sie darüber nachdachte, fiel ihr kein einziger Grund ein, warum sie sich in diesen Mann verliebt hatte. Er war überheblich und arrogant und dachte, dass nur seine Meinung zählte, die von niemandem sonst.

Myrtle drehte den Kopf und sah Adrienne ungläubig an. Hatte sie das richtig verstanden? Sie hatte immer versucht, Adrienne davon abzubringen, sich auf ihren Bruder einzulassen, aber jedes Mal erfolglos. Was also hatte Adrienne dazu gebracht, ihre Meinung zu ändern?

"Bist du dir sicher?", hakte sie nach, um zu sehen, wie entschlossen Adrienne wirklich war.

Es wäre besser, wenn sich Adrienne jemand anderem zuwenden würde, jemandem, der sie wirklich lieben könnte. Myrtle wollte nur, dass ihre beste Freundin glücklich ist, und sie glaubte nicht, dass ihr Bruder zu echter Liebe fähig ist.

"Natürlich", antwortete Adrienne sofort. "Ich muss deinen Bruder nicht heiraten, damit du meine Schwester wirst. Myrtle, in meinem Herzen bist du bereits die Schwester, die ich mir wünsche. Auch wenn wir nicht denselben Mutterleib teilten, bist du meine Schwester."

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