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Das zweite Xing Linlin

Xing Guotais Gesicht sah auch nicht besonders gut aus. Jedes Wort in dem Tagebuch war von Sorge und Panik geprägt. Wie gekränkt Xing Linlin all die Jahre gewesen war? Hätten sie das früher gewusst, hätten sie Xing Linlin schon damals daran gehindert, auszuziehen! Aber was soll's, Xing Shu war ihre Tochter. Xing Guotai seufzte. "Na gut, sei nicht böse. Wenn Xing Shu Cheng Xingyang geheiratet hat, können wir Linlin zurückholen oder ihr eine Villa neben unserem Haus kaufen. Ich habe gehört, dass Linlin hart gearbeitet hat und es uns zurückzahlen will. Zewu hat versucht, sie zu überreden und ihr eine Bankkarte gegeben, aber sie hat sich geweigert, sie anzunehmen. Sie ist zu starrköpfig."

Wu Minxia nickte. Sie war sehr zufrieden mit Xing Linlin, aber sehr enttäuscht von Xing Shu.

Natürlich war Xing Shu nicht bewusst, dass sie von Xing Linlin wieder einmal lächerlich in den Rücken gestoßen worden war. Sie wollte gerade den privaten Raum betreten, als ihr Handy klingelte - es war von der Wohltätigkeitsorganisation. Sie gab Cheng Lang ein Zeichen und ging zu einem abgelegenen Ort, um den Anruf entgegenzunehmen.

Als Xing Shu ihren ersten Gehaltsscheck erhalten hatte, hatte sie die Hälfte ihres Gehalts an eine Wohltätigkeitsorganisation überwiesen und sie gebeten, es an das Waisenhaus zu spenden, in dem sie und Xing Linlin aufgewachsen waren. Die monatliche Spende war heute fällig, aber in letzter Zeit waren so viele Dinge passiert, dass sie es vergessen hatte.

Die Stimme eines Mannes mittleren Alters ertönte aus dem Telefon. "Fräulein Xing Shu, guten Abend. Wir haben das Geld für diesen Monat bereits an das Radiant Welfare Home geschickt. Sie haben demnächst eine Veranstaltung, bei der sie mit den Kindern des Heims Teigtaschen machen. Als größte Spenderin wollte der Direktor Sie schon immer mal sehen."

"Ich danke Ihnen. Ich werde das Geld für diesen Monat später überweisen. Was das Knödelkochen angeht... wahrscheinlich nicht. Ich weiß nicht, wie man das macht. Außerdem möchte ich nicht, dass der Direktor erfährt, dass ich das Geld gespendet habe." Xing Shu schüttelte den Kopf.

Der Mann mittleren Alters sagte: "Gut, dann werde ich Frau Xing Shu nicht stören."

Xing Shu legte den Hörer auf. Sie wollte gerade in das Privatzimmer gehen, als sie Nie Heng rauchend an der Tür des Privatzimmers stehen sah. Neben ihm stand auch eine Frau. Das Licht im Korridor war schwach, aber Xing Shu erkannte trotzdem das Gesicht der Frau - es war Nie Xi.

Nie Xi nahm Nie Heng die Zigarette aus dem Mund und steckte sie sich in den Mund. Ihre nach oben gerichteten Augen sahen Nie Heng provozierend an. Xing Shu erstarrte für einen Moment. Sie erinnerte sich daran, dass Nie Xi die Adoptivtochter der Familie Nie war und Nie Heng die Nachfolgerin der Familie Nie. Die beiden waren eigentlich keine blutsverwandten Geschwister. Xing Shu sah, wie Nie Heng plötzlich Nie Xis Handgelenk packte und sie in den Waschraum schob.

Die Tür des Waschraums war nicht ganz geschlossen. Xing Shu sah, wie Nie Xi auf das Waschbecken gelegt wurde, ihre Beine um Nie Hengs Taille geschlungen...

Als sich die Tür zum Waschraum langsam schloss, stand Xing Shu wie angewurzelt am Boden, ihr Körper war wie erstarrt. Sie kannte Nie Xi seit vielen Jahren und hatte nie etwas von ihrer Beziehung gewusst. Diese plötzliche Enthüllung hatte sie völlig aus dem Konzept gebracht. Hatte Nie Heng nicht eine Verlobte?

Im Korridor war es still; die Geräusche aus dem Waschraum wurden verstärkt. Wohl wissend, dass Cheng Lang immer noch im Privatzimmer wartete, stieß Nie Heng hart und schnell zu - und es war sehr bald vorbei. Sein Mund und sein Kragen waren mit Spuren von Lippenstift bedeckt.

Nie Xi stieg mit zitternden Beinen vom Waschbecken herunter und lächelte. "Bruder, hat dich meine zukünftige Schwägerin nicht befriedigt?"

Nie Heng tätschelte Nie Xis Gesicht grausam und spuckte Worte aus, die wie Messer schnitten. "Deine Schwägerin ist nicht fähig, eine Affäre mit einem Mann zu haben."

Nie Xi wurde augenblicklich blass. Nie Heng rückte seine Kleidung zurecht und sagte: "Komm raus, wenn du fertig bist."

Im Waschraum herrschte wieder Stille. Nie Xi richtete ihre Kleidung mit zitternden Händen. Als sie hinausging und den Schatten an der Ecke des Korridors sah, erstarrte sie. "Xing Shu ..."

Nie Xi hatte nicht erwartet, dass Xing Shu über ihre Affäre mit Nie Heng stolpern würde und geriet sofort in Panik. Sie wusste nicht, wie viel Xing Shu gesehen hatte, aber sie wusste, dass ihre Handlungen sich in gewisser Weise nicht von denen Xing Linlins unterschieden. Verzweifelt erklärte sie: "Xing Shu, hören Sie mir zu. Nie Heng und Fräulein Liu haben keine Gefühle füreinander - es war nur eine politische Heirat." Gerüchten zufolge war Fräulein Liu dem Sex sehr abgeneigt... Nie Xi fand viele Ausreden, um ihre abweichende Beziehung zu Nie Heng zu erklären.

In den Augen von Xing Shu braute sich ein Sturm zusammen. Nach einer langen Zeit fragte sie mit heiserer Stimme: "Nie Xi, glaubst du, dass Cheng Xingyang und ich etwas füreinander empfinden?"

Nie Xi zitterte und wusste nicht, was sie sagen sollte.

Das war zu viel für Xing Shu - die Person, die eben noch selbstgerecht mit ihr über Xing Linlin gelästert hatte, war plötzlich die zweite Xing Linlin geworden.

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