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Zweiundvierzig Jahre

Rosalind runzelte die Stirn, als das Licht in ihre Augen fiel. Sie blinzelte einige Male verwirrt.

War sie nicht tot?

Ihre Stirn legte sich in Falten, als sie den Raum überblickte und die abblätternden braunen Wände, den zerkratzten Holzboden, das kümmerliche Mobiliar bemerkte...

War das nicht ihr Zimmer von vor langer, langer Zeit?

Als sie sich panisch umsah, fielen ihre Augen auf ihre blassen, jadegrünen Hände.

Hände, die sie vor Jahren mit dem Segen verloren hatte. Als die Göttin ihr den Segen nahm, war ihre Haut geschrumpft, als wäre sie verbrannt. Sie hasste es immer, wie ihre Hände aussahen und wie sie sich anfühlten. Schlimmer noch, wie sie von Fremden verächtliche und mitleidige Blicke zogen.

Aber bevor Rosalind die Freude darüber, ihre Hände zurück zu haben, voll und ganz erfassen konnte, ließ ein Windhauch sie unkontrollierbar zittern. Sie erinnerte sich daran, dass sie im Winter keinen Kamin hatte, um sich zu wärmen. Die Kälte erinnerte sie ständig daran, dass niemand im Hause Lux bereit war, ihr eine angemessene Heizung zu bieten, nur wegen ihrer schwarzen Haare.

Vielleicht war sie nach all diesen Jahren immer noch die zurückgewiesene, unerwünschte Schande, die ihre Familie verstecken wollte.

Von Nostalgie ergriffen, stand Rosalind auf und lief zu einem kleinen Spiegel, den sie heimlich mitgenommen hatte, nachdem Dorothy ihn letzten Herbst an ihrem Geburtstag weggeworfen hatte. Die Dielen knarrten, wie sie es immer taten.

Rosalind starrte auf das Spiegelbild ihres jüngeren Ichs und dachte darüber nach, dass, wenn dies das Sterben war, dann war es weniger beängstigend als sie dachte. Vielleicht hatte die Göttin tatsächlich Mitleid mit ihr und schenkte ihr einen letzten Traum.

Im Spiegel waren Rosalinds Haare immer noch schwarz, ihre Augen immer noch golden. Wenn sie das Haus verließ, fügte sie sich nahtlos unter die Menschen. Und das kam für die angesehene Familie Lux einer Sünde gleich: sich wie ein normaler Mensch auszusehen, während man Teil der Acht Großen Familien war.

Sie sah genauso aus wie früher.

Bis auf…

Wo war ihre Halskette?

Rosalind eilte zurück zu ihrem Bett und durchwühlte die dünnen Decken und flachen Kissen. Ihr Bett war schlicht, und sie stellte schnell fest, dass die Kette einfach nicht darauf lag. In Panik begann Rosalind, ihre kleine Schublade mit nur vier verschiedenen Kleidern umzukrempeln.

Die Halskette war nichts Besonderes. Ihr Design war schlicht und altmodisch. Aber sie war ein Geschenk ihrer verstorbenen Mutter. Es war etwas, das Rosalind bei sich getragen hatte, seit sie fünf Jahre alt war.

Als sie zum zweiten Mal eines ihrer Kleider schüttelte, in der vergeblichen Hoffnung, dass die Kette im Stoff hängengeblieben war, kam ihr ein merkwürdiger Gedanke in den Sinn. Zögernd zwickte sie sich fest in ihr Bein.

"Ah!" Tränen stiegen ihr sofort in die Augen.

Der Schmerz bedeutete, dass dies kein Traum war!

War sie gerade von den Toten auferstanden? Aber was war mit ihrer Halskette?

Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihren Gedankengang.

"Lady Rosalind?"

Die Frage kam von einer Frau in Schwarz und Weiß. Ein vertrautes Gesicht.

"Milith?" rief sie. "Haben Sie meine Halskette gesehen?"

Die Frau hielt inne und sah sie verwirrt an.

"Meine Dame, welche Halskette?"

Rosalind hob eine Augenbraue. "Die mit einem Schlüssel-"

"Sie haben noch nie eine Halskette getragen," erwiderte Milith. Sie musste die Überraschung in Rosalinds Gesicht gesehen haben, denn sie fügte schnell hinzu: "Stimmt etwas nicht?" Als Rosalind nicht antwortete, fuhr sie fort: "Meine Dame, fühlen Sie sich unwohl? Soll ich den Arzt rufen?"

"Nein, ich-", Rosalind wich dem besorgten Blick ihrer Zofe aus. Milith hatte ihr jahrelang gedient. Es war unmöglich für sie, eine Halskette, die ihre Herrin täglich getragen hatte, nicht zu bemerken.

Aber irgendwie konnte sie sich nicht daran erinnern.

Rosalind sah wieder zu ihrer besorgten Zofe. Milith schien etwa in ihren späten Teenagerjahren zu sein. Mit etwas Mühe fragte Rosalind schließlich: "Können Sie mir sagen, welches Jahr wir gerade haben?"

"Es ist der zehnte Monat des achthundertundsiebten Jahres nach dem Großen Krieg. Warum fragen Sie? Sind Sie sicher, dass es Ihnen gut geht? Sie sehen ein wenig blass aus. Haben Sie schon wieder Ihr Mittagessen vergessen? Hat es Ihnen nicht geschmeckt?" Bei Miliths Erinnerung sahen beide Frauen auf das unberührte Essen auf dem Beistelltisch.

"Ich-"

"Lady Rosalind... können Sie bitte aufhören, Ihre eigenen Belange zu ignorieren?" tadelte die junge Zofe in gewohnter Manier. Da Milith schon seit Rosalinds Kindheit bei ihr war, hatte sie weniger Angst vor ihrer Herrin als die meisten Dienstmädchen.

Früher hatte Rosalind es gehasst, wie nervig Milith sein konnte. Doch ihre Stimme jetzt wieder zu hören, gab Rosalind ein merkwürdiges Gefühl der Euphorie. Sie ließ Milith weiterreden.

"Sie können sich nicht auf Ihre Familie verlassen, wenn es um Fürsorge geht. Sie haben schon seit einigen Jahren Ihren Geburtstag vergessen. Ich weiß, es klingt hart, aber die Wahrheit ist, dass sie uns hier im Schuppen im Stich gelassen haben. Wir sollten versuchen, unser eigenes Leben zu leben."

Rosalind sah noch einmal auf ihr ungegessenes Mittagessen. Im Jahr 807 der Neuen Ära war sie siebzehn Jahre alt. Und Dorothy, die vor ein paar Wochen 18 Jahre alt geworden war, ohne den Segen der Göttin zu erhalten, würde sich bald auf den Weg zu Rosalinds kleinem Verschlag machen.

"Da haben Sie recht," sagte Rosalind.

"Bitte?" Die Falte zwischen Miliths Augenbrauen vertiefte sich.

"Ich sagte, Sie haben recht. Es ist wirklich an der Zeit, unser Leben zu leben."

"Sie-", Milith kam hastig auf sie zu. "Fühlen Sie sich fiebrig?"

"Milith, mir geht es gut," beruhigte Rosalind sie und vermied instinktiv Miliths Berührung. In ihren letzten Tagen war ihre Haut so empfindlich geworden, dass selbst eine leichte Berührung große Schmerzen verursachte. Ihr Körper war durch das Fehlen des Segens so geschwächt, dass sie fast ans Bett gefesselt war.

"Darf ich das haben?" Ignorierend Miliths Überraschung, griff sie nach ihrem kalten Mittagessen und begann es sofort hastig zu verschlingen, als hätte sie tagelang nichts gegessen.

Als sie das sah, wurde Milith alarmiert.

"Meine Dame! Was tun Sie!?" Milith fragte in Alarm. "Warten Sie bitte! Lassen Sie mich Ihnen einen neuen Teller holen! " Als sie keine Antwort bekam, geriet das junge Dienstmädchen in Panik. "Meine Dame, bitte!" rief sie diesmal lauter. "Lassen Sie mich zumindest das Essen für Sie aufwärmen. So etwas zu essen ist nicht gut für Sie/einfach ungesund-"

"Milith…" Rosalind blickte von ihrem halb gegessenen Sandwich auf und lächelte. "Es schmeckt köstlich. Danke."

"Meine Dame…" Milith sank plötzlich vor ihr auf die Knie, Tränen strömten über ihre Wangen. Überrascht blinzelte Rosalind. Milith begann zu schluchzen.

Ihre verzweifelten Schreie ließen Rosalind sich schuldig fühlen. Gleichgültig ob jetzt oder damals, Milith hatte sich immer große Sorgen um sie gemacht. Als das monatliche Gehalt der Familie Lux nicht ausreichte, um ihre Ausgaben zu decken, war es Milith, die begann, im nahegelegenen Wald Kaninchen zu jagen und nach essbaren Nüssen und Beeren zu suchen. Als Rosalinds einzige Zofe war Milith gezwungen, alles zu tun, einschließlich Jagen und Kochen.

Rosalind hatte die junge Zofe nie wirklich wertgeschätzt. Als die Familie Lux sie zurück in ihr Haus rief, weigerte sich Rosalind, Milith mitzunehmen. Als sie von Miliths Tod erfuhr, war sie bereits Baronin Sencler. Die Nachricht war auch schon einige Jahre alt.

Entschlossen, sich wieder gut zu machen, half Rosalind Milith auf die Beine und schenkte ihr ein strahlendes, beruhigendes Lächeln. "Liebe Milith, könntest du mir beibringen, wie man jagt?"

Traum oder nicht, dies war eine zweite Chance, das Leben ohne Reue zu leben!

"Meine Dame…"

"Milith! Sie haben recht. Ich kann nicht weiter in Selbstmitleid zerfließen." Während Milith sie mit großen, ängstlichen Augen ansah, erklärte Rosalind entschlossen: "Ich werde mein Leben in die Hand nehmen. Und ich werde damit anfangen, das Jagen zu erlernen." Ihr Lächeln wurde breiter. Bald würde sie diejenigen jagen, die ihr Unrecht getan hatten.

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