Als Mo Yuchen draußen war, setzte sich Xi Qian eilig neben Su Xiaofei auf das Bett und umfasste besorgt ihren Arm. „Feifei, geht es dir gut?", fragte sie mit einem irritierten Ausdruck im Gesicht.
War Su Xiaofeis plötzliche Verhaltensänderung das, was Mo Yuchen zuvor angedeutet hatte? Spielte ihre beste Freundin nur ein psychologisches Spiel mit ihm oder war Su Xiaofei tatsächlich über ihn hinweg?
Xi Qian und Su Xiaofei waren seit der vierten Klasse beste Freundinnen, und Xi Qian kannte Su Xiaofeis Besessenheit bezüglich Mo Yuchen nur zu gut. Keiner wusste besser Bescheid über Su Xiaofeis Gefühle für diesen Mann, denn sie vertraute sich ausschließlich ihrer besten Freundin an.
Su Xiaofei war sich natürlich bewusst, was in Xi Qians Kopf vorging, doch sie konnte ihrer Freundin ihre Zweifel nicht übel nehmen. In ihrem früheren Leben hatte sie immensen Aufwand betrieben, um Mo Yuchen zu heiraten.
„Mir geht es gut, Qian. Der Arzt hat gesagt, ich kann morgen nach Hause", sagte Su Xiaofei und lächelte ihre Freundin an.
Xi Qian war wie versteinert. Sie und Su Xiaofei hatten oft wegen Mo Yuchen gestritten, besonders weil Xi Qian fand, dass er ihrer Freundin nicht würdig war. Doch Su Xiaofei bestand darauf, ihn weiter zu verfolgen. Xi Qian konnte kaum glauben, dass ein Tag kommen würde, an dem Su Xiaofei diesen Mann als so abstoßend empfand, dass sie ihn in ihrer Gegenwart wegjagte.
So sehr sie Su Xiaofei auch schätzte, Xi Qian missbilligte die Beziehung ihrer Freundin zu einem Mann, der offensichtlich kein Interesse an Su Xiaofei oder ihrem Wohlergehen hatte. Es war nicht leicht für sie, mit anzusehen, wie Su Xiaofei immer wieder von Mo Yuchen schikaniert wurde.
Auch Lu Qingfeng beobachtete Su Xiaofei scharf und war in seine Gedanken vertieft. Seine zusammengezogene Stirn verriet seine skeptische Haltung gegenüber Su Xiaofeis Absichten und ihrem plötzlichen Sinneswandel gegenüber ihrem Verlobten.
Su Xiaofei schenkte Xi Qian ein sanftes Lächeln und lehnte ihren Kopf liebevoll gegen den Arm ihrer Freundin. Jetzt, mit einem klaren Kopf, fragte sie sich, was sie in ihrem vergangenen Leben dazu gebracht hatte, sich Hals über Kopf in Mo Yuchen zu verlieben. Wenn sie an ihr vergangenes Verhalten und ihre Verwirrtheit dachte, hätte Su Xiaofei sich am liebsten selbst geohrfeigt.
Die Tragödien, die ihrer Familie und Lu Qingfeng widerfahren waren, hätten vermieden werden können, hätte sie sich von ihrer Besessenheit für Mo Yuchen befreit. Je mehr sie darüber nachdachte, desto entschlossener war sie, die Dinge wieder ins Reine zu bringen.
Es stimmte zwar, dass sie in ihrem früheren Leben gegen ihn und Ye Mingyu intrigiert und versucht hatte, sie unglücklich zu machen, aber Su Xiaofei hatte nie versucht, sie zu töten. Warum also musste sie – die von allen als die Bösewichtin betrachtet wurde – ihr Kind verlieren?
Sie musste damals wirklich töricht gewesen sein. Dieses Mal jedoch machte es Su Xiaofei nichts aus, in den Augen aller als Schurkin da zu stehen, solange sie am Ende das letzte Lachen haben konnte.
„Wirklich? Du magst Mo Yuchen nicht mehr?", hakte Xi Qian nach.
„Ich habe erkannt, dass es dumm war, einem Mann nachzulaufen, der offensichtlich kein Interesse an mir hat. Wenn er mich nicht mag, dann soll es so sein. Wozu sollte ich mir das Leben schwerer machen, als es ohnehin schon ist?", antwortete Su Xiaofei mit fester Stimme.
Su Xiaofei konnte nur über ihr früheres Ich lachen. Sie wurde von ihrer Adoptivmutter zur Erbin erzogen und hatte sich erniedrigt, sich in solch einen Mann zu verlieben – und das Schlimmste war, dass er sie immer wieder abgewiesen hatte!
Xi Qian biss sich auf die Lippe, wagte jedoch nicht, Su Xiaofei weiter zu hinterfragen. In den Augen ihrer Freundin las sie die Entschlossenheit, Mo Yuchen nicht länger nachzulaufen, was durchaus eine gute Sache war. Xi Qian konnte nur hoffen, dass Su Xiaofei diesmal bei ihrer Entscheidung blieb.
"Dann ist es ja gut, dass du über ihn hinweg bist. Ich habe dir doch gesagt, dass er nicht der Richtige für dich ist, Feifei." Xi Qian umarmte Su Xiaofei und lächelte.
"Ja, eigentlich hätte ich schon viel früher auf dich hören sollen." Su Xiaofei verbarg ihr düsteres Lächeln im Haar von Xi Qian.
"Das reicht, dass du es jetzt weißt." Lu Qingfeng machte auf seine Anwesenheit aufmerksam.
Su Xiaofei warf einen Blick auf ihn und bemerkte das leichte Stirnrunzeln auf seinem hübschen Gesicht.
Sie hatte das Gefühl, den jungen Lu Qingfeng schon lange nicht mehr aus der Nähe gesehen zu haben. Noch hatte er einige kindliche Züge, doch sie war sich sicher, dass er sich zu einem beeindruckenden Mann entwickeln würde.
Tatsächlich sah es im Moment alles in Ordnung aus. Sie hatte immer noch die Chance, die Verbindung zu dem Schurken Mo Yuchen abzubrechen, ihre Mutter vor einem gebrochenen Herzen zu bewahren und von Lu Qingfeng zu verhindern, dass er in der Zukunft zu einem skrupellosen Tyrannen wurde.
Wenn ihre Annahmen stimmten, könnte sie sogar Lu Qingfengs Zukunft ändern. Die Erinnerung an den Mann, der mit einem Paar leerer Augen vor ihrem Grabstein stand, war noch immer lebhaft in ihrem Gedächtnis.
Su Xiaofei wollte ihn nie wieder in solch einem Zustand sehen. Doch als sie den fünfzehnjährigen Lu Qingfeng betrachtete, musste sie feststellen, dass seine wahren Absichten auch in so jungen Jahren schon zu tief verankert waren, als dass sie ihm entgehen könnten.
"Nun, da das geklärt ist. Ich habe deinen Lieblings-Blaubeerkäsekuchen mitgebracht, Schwester Xiaofei", erklärte Lu Qingfeng mit ernster Miene, was Xi Qian sofort ärgerte.
Bevor sie das Streitgespräch zwischen Mo Yuchen und Su Xiaofei mitgehört hatten, waren sie in der örtlichen Bäckerei aufeinandergetroffen und hatten sich darüber gestritten, wer Su Xiaofei den letzten Käsekuchen kaufen sollte.
Xi Qian, die im Gegensatz zu Su Xiaofei und Lu Qingfeng nicht in eine wohlhabende Familie hineingeboren wurde und von ihren Eltern nur ein bescheidenes Taschengeld bekam, musste sich mit einem Teilzeitjob über Wasser halten.
"He! Hatten wir nicht ausgemacht, dass wir es zusammen kaufen?!" rief sie aus.