In den darauffolgenden Tagen verlief alles ohne Probleme. Ran Xueyi traf sich mit Vertretern des Modehauses Senhe und unterzeichnete den Vertrag. Andrea Torres, die Chefdesignerin und Erbin des Unternehmens, war ebenfalls vor Ort um persönlich zu bezeugen, wie Ran Xueyi ihren Namen unter das Dokument setzte. Ein Lächeln, das bis über beide Ohren reichte, erschien auf Andreas Gesicht, als der Vertrag endlich in Kraft trat.
An jenem Tag wurde Ran Xueyi von Andreas Begeisterung regelrecht mitgerissen. Niemand konnte sagen, wer von den beiden die Einheimische und wer die Auswärtige war, denn obwohl Andrea in dieser Stadt geboren wurde, schien sie die Sehenswürdigkeiten besser zu kennen als Ran Xueyi, die ja eigentlich die Einheimische war.
Nachdem sie also verschiedene Orte besuchten und allerlei Souvenirs sowie andere Dinge kauften, kam Ran Xueyi erschöpft nach Hause zurück und hatte das Gefühl, dass ihre Arme und Beine jeden Moment abfallen könnten.
Doch kaum hatte sie den Zugangscode eingegeben und die Tür geöffnet, erblickte sie in der Ecke des Wohnzimmers einen Stapel von Einkaustaschen und Kartons voller Schuhe und Schmuck.
Beim Geräusch von Absatzklacken drehte Tante Shu ihren Kopf aus der Küche heraus und sagte: "Du bist zurück? Das muss anstrengend gewesen sein."
Ran Xueyi nickte aufrichtig und ließ sich sofort auf das Sofa fallen, ohne auf ihre Haltung zu achten, und sank in sich zusammen. "Es ist schon eine Weile her, dass ich mich in der Stadt umgesehen habe."
"Und, wie war es?"
"Es war schön...", antwortete Ran Xueyi und zeigte dabei ein bitteres Lächeln.
Beim Durchstreifen der Stadt wurde Ran Xueyi nicht nur von dem, was sie draußen sah, überrumpelt, sondern sie verhöhnte sich auch selbst. Sechs Jahre lang hatte sie es versäumt, sich umzusehen und sich mit den Schönheiten, die die Stadt zu bieten hatte, zu umgeben. Stattdessen drehte sich ihre ganze Welt um etwas so Winziges – ein Namensschild: Yang Baihua.
Sie hatte gedacht, dass sie, wenn sie alles in diese Beziehung investierte, eine derart reine und unschuldige Liebe erlangen könnte, die ein Leben lang halten würde. Und dass Yang Baihua das Gleiche für sie tun würde. Leider hatte sie sich durch die Liebe blenden lassen und sich freiwillig zum Narren gemacht.
Es lag nicht daran, dass Ran Xueyi zu dumm war, um die Anzeichen zu erkennen oder Zweifel zu haben. In ihr gab es eine leise Stimme, die ihr sagte, dass etwas nicht stimmte, während sie auf Händen getragen wurde. Aber selbst wenn sie auf diese leise Stimme in ihrem Kopf gehört hätte – wer hätte ihr sagen können, dass jeder um sie herum sie betrügen und über Jahre hinweg belügen würde? Dass sie alle unter einer Decke stecken, um ihr die Augen zu verbinden und sie so zu blenden?
Richtig...
Ran Xueyi war kein naives Mädchen, das blind an die Liebe glaubte. Sie war lediglich von den Lügen der Menschen geblendet worden.
Sie schüttelte das Gefühl der Leere in ihrem Herzen ab, blickte auf den Stapel von Kartons und Taschen in der Ecke, die dort wie ein Dorn im Auge lagen. Sie stand auf, ging langsam darauf zu und fragte schließlich: "Wer hat das geschickt, Tante Shu?"Tante Shu wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab und trat zu ihr. Lächelnd antwortete sie: „Der junge Meister hat dies für Sie geschickt. Er sagte, ein Freund hätte es ihm geschenkt und es sei hierher zurückgeschickt worden für Sie, da es all das sei, was Frauen mögen."
Ran Xueyi hob eine der Schachteln vom oberen Teil des Stapels auf und betrachtete sie genau.
Diese XX-Marke, so begehrt bei jungen Damen aus angesehenen Familien - ein Geschenk?
Ran Xueyi zweifelte daran.
Sie nahm eine weitere Schachtel und öffnete sie. Die silbernen Schuhe mit der roten Sohle waren wunderschön. Alleine dieses Paar kostete ungefähr sechstausend Dollar. Anblick des Stapels verschiedener Schachteln schmerzte ihr Herz.
Selbst als Erbin eines lokalen Tyrannen in der Stadt würde sie nie derart verschwenderisch sein und diese Artikel auf einmal kaufen. Zudem benötigte man normalerweise einige Wochen, um diese Marken zu ergattern, und eine Reservierung war fast unmöglich, es sei denn, man gehörte zu den VIPs.
Ran Xueyi hatte keinen Zweifel daran, dass Song Yu Han seine Kontakte hatte und einer der Top-VIPs war, weshalb er eine solch unwahrscheinliche Leistung vollbringen konnte.
Was die Behauptung betraf, es sei ein Geschenk von einem Freund... Ran Xueyi brauchte nicht zu raten und ignorierte diese Tatsache lieber. Aus den Augen, aus dem Sinn.
Sie wandte sich an Tante Shu und meinte: „Das ist zu viel... Ich besitze noch so viele Dinge, daher hoffe ich, Tante Shu könnte einige davon für Ihre Töchter und Schwiegertochter mitnehmen." Bevor Tante Shu ablehnen konnte, fügte sie hinzu: „Es wäre schade, sie nur in einer Ecke meines Schrankes zu verstauen und nie zu verwenden, weil ich sie vergessen habe."
Tante Shu konnte nicht ablehnen und hielt auch die junge Dame nicht auf, also gab sie nach und rief ihre Töchter und Schwiegertochter an, um nach ihren Größen zu fragen. Bald darauf blickte Tante Shu auf den kleinen Berg Schuhe neben sich und schaute der Frau des jungen Meisters nach, als diese die Treppe hochging.
Nachts lag Ran Xueyi im Bett und überlegte, was sie tun musste. Es war schon zu lange her, dass sie gegen ihre Familie vorgegangen war. Sie war mit anderen Dingen derart beschäftigt, dass sie fast ihre Existenz vergessen hatte.
Die Familie Ran musste bereits einen Plan für den Fall ausgearbeitet haben, dass sie nicht auftauchen würde. Die Familie Yang könnte ebenfalls Druck auf ihre Eltern ausgeübt haben, um die Auflösung der Verlobung zwischen ihr und Yang Baihua zu verhindern.
Aber was sollte sie tun? Selbst wenn ihre Eltern die Verlobung nicht auflösen wollten, lebte sie längst nicht mehr in einer Zeit, in der Eltern das Sagen hatten und ihre Kinder zu einer Heirat zwingen konnten.
Mit einem Blick auf den Ring in ihrer Hand schloss Ran Xueyi langsam ihre Augen und schlief sorgenfrei ein.