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Der Wolkenkratzer  

Erneut breitete sich eine beängstigende Stille im Raum aus, doch dieses Mal wurde sie durch Leons Frage nach dem Zeitpunkt des Tsunamis durchbrochen. Kaiden antwortete bedrückt, dass es unterschiedlich sei, möglicherweise schon in wenigen Minuten oder erst in ein paar Stunden. Die Dringlichkeit des Moments wurde ihnen bewusst, und sie beschlossen, sofort aufzubrechen. Doch in ihrem Stress vergaßen sie etwas Wichtiges: Max, der schwer verletzt im Klassenzimmer zurückblieb. Beide sahen ihn mit Verbitterung und Hoffnungslosigkeit an.

 

Max, der die Stimmung im Raum erfasste, verstand, dass er nicht zur Last fallen wollte und dass sein Leben am seidenen Faden hing. Er wollte jedoch weder seinen besten Freund noch einen guten Freund wegen seiner eigenen Verletzung gefährden.

 

So ließ er sie ohne Schuldgefühle ziehen. Doch ihr Ausweg war problematisch: Die Tür war versperrt, und der einzige Fluchtweg führte durch das Klassenzimmerfenster im zweiten Stock, was gefährlich war. Ein falscher Schritt könnte schwerwiegende Verletzungen und nachfolgend ihren sicheren Tod bedeuten.

 

Leon zögerte nicht und rannte zum offenen Fenster. Kaiden folgte ihm, und dabei wurden ihre Hosen, Schuhe und der untere Teil ihres weißen Shirts mit dem dickflüssigen roten Blut ihrer Klassenkameraden getränkt. Leon kletterte flink wie ein Affe die braune, von Blutflecken übersäte Wand hinunter, indem er sich an den schwarzgrauen Ableitungswasserrohren festklammerte. Als Leon etwa auf halber Höhe war, begann auch Kaiden den Abstieg.

 

Er schaute ein letztes Mal zu Max, der ihn ebenfalls ansah und mit einem leichten Lächeln sagte: „Wehe du verreckst, verstanden." Kaidens Kopf verschwand langsam aus Max' Sicht. Die letzten Worte, die Max kurz vor seinem Tod hörte, waren Kaidens Versprechen: „Ich verspreche, ich werde nicht sterben."

 

Kaiden war nun vollständig aus Max' Blickfeld verschwunden, und Max lachte leicht, während einzelne Tränen seine Wangen hinunterliefen. Sein Lachen wurde immer lauter, fast schon hysterisch. Plötzlich verspürte er ein ruckartiges Ziehen in seiner Brust, als ob seine Brust zwischen zwei galoppierenden Pferden zerrissen würde.

 

Ein zerreißendes Gefühl durchzog ihn, gefolgt von dem Drang, dichte Flüssigkeit auszuspucken. Max spuckte mehr und mehr, begleitet von enormen Schmerzen. Er konnte nichts dagegen tun, außer verzweifelt zu weinen. Weitere Tränen rannen seine Wangen hinunter, und sein Hals war mittlerweile vollständig mit Blut getränkt.

 

Als Max nach Luft schnappen wollte, begann ein erlösendes Gefühl sich in ihm auszubreiten. Weitere Tränen liefen ihm über die Wangen, und er brachte mit leiser, gebrochener und ängstlicher Stimme hervor, dass er noch nicht gehen wollte: „Ich will noch nicht sterben…"

 

Plötzlich durchbrach ein lauter Schrei von Leon die Stille, gefolgt von einem Aufprallgeräusch. Kaiden, besorgt, fragte, was passiert sei, und schaute nach unten. Er entdeckte Leon am Boden liegen, der erklärte, dass ein Stück des Rohrs abgebrochen sei und ihn am Kopf getroffen habe. Zum Glück war der Sturz nur aus einem Meter Höhe. Leon rief Kaiden zu, ihm zu vertrauen und versprach, ihn aufzufangen, wenn er spränge. Kaiden fasste Vertrauen und ließ sich ab dem Punkt des fehlenden Rohrs fallen. Der freie Fall fühlte sich erfrischend an, als ob die Schwerkraft ihre Haare herausforderte.

 

Doch der Aufprall war schmerzhaft, und Kaiden wurde erfolgreich von Leon aufgefangen.Allerdings verlor Leon das Gleichgewicht und beide stürzten horizontal nach vorne. Leon ließ Kaiden fallen, der mit dem Rücken gegen die Wand prallte. Als er versuchte, aufzustehen, spürte er eine dickflüssige Substanz und klebrige, glitschige Gebilde, die an lange Würstchen erinnerten. Als er aufstand und auf seine Hand schaute, erschrak er, als er bemerkte, dass seine Hand von Leichen bedeckt war. Die letzten Momente von Max hatten sie eingeholt.

 

Nachdem sie diese schreckliche Szene überstanden hatten, wurde ihnen bewusst, dass sie noch Zeit hatten. Kaiden erklärte Leon, dass sie wahrscheinlich mindestens sechs Minuten Zeit hatten, möglicherweise mehr, da er keinen Tsunami am Horizont sehen konnte. Während sie durch die Stadt rannten, sahen sie bedauerlicherweise leblose Menschen: einige lagen regungslos auf der Straße, andere waren von Trümmern bedeckt.

 

Die moderne Stadt, die sie durchquerten, war von Verwüstung gezeichnet. Sie wirkte chaotisch und ganz und gar nicht wie der Ort, den sie kannten. Die gesamte Infrastruktur war aus den Fugen geraten. Während sie rannten, beschleunigten sie ihr Tempo und wurden immer schneller. Mit jedem Blick zurück wurde Kaiden erleichtert, da ihr Ziel näher rückte. Doch dann erfolgte ein weiterer Wendepunkt.

 

Plötzlich wurden Bildschirme von Fernsehern und Mobiltelefonen in der Stadt aktiviert. Die Bevölkerung erhielt eine Warnung: „Alle Bewohner dieser Stadt sollten sofort evakuieren. Versuchen Sie, sich in höheren Gebäuden zu verschanzen." Kaiden kannte diese Informationen bereits, doch als die Stimme verkündete, dass der Tsunami eine Höhe von 100 Metern erreichen würde, durchfuhr ihn ein Schock. Er wusste, dass sie nun noch schneller rennen mussten, da ein neues Ziel vor ihnen lag. Obwohl es nur zwei Kilometer weiter entfernt war, war diese Zeit inmitten dieser Katastrophe lebensentscheidend.

 

Natürlich hätten sie ein Auto klauen können oder auch ein Motorrad, doch zu diesem Zeitpunkt war alles überfüllt, und kein Auto käme durch. Von einem Motorrad keine Spur. So rannten sie und immer mehr Menschen schlossen sich ihnen an. Die Straßen der Stadt schienen sich mit Überlebenden zu füllen.

 

Mittlerweile wirkte es, als sei die gesamte Stadt auf den Straßen. Kaiden und Leon schlängelten sich geschickt durch die Menschenmengen, auch wenn es moralisch betrachtet nicht der richtige Weg war, andere Menschen wegzustoßen, wenn sie den Weg versperrten. Kaiden und vor allem Leon fühlten sich dabei nicht wohl, aber es blieb ihnen keine andere Wahl.

 

Plötzlich setzte ein pechschwarzer Schauer begleitet von Regen ein, und das nicht nur leicht, sondern in strömenden Mengen, die sie fast bewegungsunfähig machten. Es schien, als ob Zeus und Poseidon einen kindischen Streit austrugen, der jedoch massive Auswirkungen auf die Menschen hatte.

 

Die meisten Menschen hielten ihre Jacken oder Westen vor sich, um sich vor dem Regen zu schützen. Doch Leon und Kaiden taten dies nicht. Kaiden erklärte Leon, dass mehr Fläche mehr Widerstand bedeute, sobald es regnete und der Wind aufkam. Dies war in gewisser Weise ein Vorteil für die beiden, denn im Vergleich zu einem Lastwagen schienen sie wie Sportwagen zu sein. Sie rannten zwar langsamer als zuvor, aber im Vergleich zu den verzweifelten und ängstlichen Menschen um sie herum wirkten sie viel schneller.

 

Kaiden warf erneut einen Blick nach hinten, und seine Mimik änderte sich von einem Moment zum anderen. Aufgrund des Windes und des Regens konnten sie nicht mehr in die Ferne schauen. Sie mussten einfach darauf hoffen, irgendwie zu entkommen.

 

Kaiden schrie Leon zu: „Wir sind da. Das ist das Hochhaus, das wir erklimmen müssen, um hier lebend herauszukommen." Sie rannten weiter, und der Abstand zwischen dem Gebäude und den beiden Jungs schien sich immer weiter zu verringern. Statt der Freude darüber, ihr Ziel fast erreicht zu haben, zeigte sich auf ihren Gesichtern nun eine finstere Miene, die von Angst und Verzweiflung gezeichnet war. Obwohl das Gebäude noch zu stehen schien, war die unterste Etage aufgrund der Erdbeben eingebrochen, und es gab keinen Eingang mehr.