Sang Qianqian war für einen Moment wie versteinert. Sie hatte gedacht, dass Shen Hanyu längst abgereist sei, aber zu ihrer Überraschung wartete er immer noch auf sie.
Sie war berührt, aber sie traute sich nicht, ihm gegenüber die gewohnte Nähe zuzulassen.
Auch wenn sie wusste, dass der vor ihr stehende Shen Hanyu nicht die Person aus ihren Träumen war, fühlte sie sich in seiner Nähe doch unbehaglich und unter Druck gesetzt.
Absichtlich ging Sang Qianqian ein paar Schritte hinter Shen Hanyu her. Die Nacht war still, nur das Zirpen der Insekten war zu hören.
Plötzlich schien Shen Hanyu etwas eingefallen zu sein. Er blieb stehen und drehte sich zu ihr um. „Sitong hat mir erzählt..."
Sang Qianqian wurde unerwartet überrumpelt und stolperte beinahe in seine Arme. Als sie jedoch zurück ins Hier und Jetzt kam, sprang sie reflexartig zurück wie ein Gummiband.
Shen Hanyus Miene verfinsterte sich unmerklich.
Es war nicht das erste Mal, dass sie sich vor ihm fürchtete, als ob er ein Monster wäre.
Shen Hanyu empfand das als merkwürdig. Früher hatte sie tapfer um ihn geworben, also hätte sie ihn nicht fürchten sollen.
„Bin ich wirklich so erschreckend?", fragte er gleichgültig.
Instinktiv nickte Sang Qianqian mit dem Kopf, realisierte aber schnell, dass das nicht stimmte, und schüttelte ihn dann erneut. Schließlich senkte sie den Blick und sagte beschämt: „Nein, natürlich nicht."
Shen Hanyus dunkle Augen ruhten ruhig auf ihr.
Sie wagte es, sich dem Betrunkenen allein zu stellen, aber ihm ins Auge zu blicken, dazu hatte sie nicht den Mut. Selbst wenn sie log, war es so offensichtlich, dass man ihre Lügen auf den ersten Blick durchschaute.
Daraufhin erkannte auch Sang Qianqian, dass sie überreagiert hatte, und räusperte sich. „Was wolltest du eben sagen?"
„Ach, es war nichts."
Shen Hanyu sagte auf dem weiteren Weg nichts und drehte sich auch nicht um.
Auf halbem Weg den Berg hinunter wurde Sang Qianqian plötzlich schwach und ihr Magen verdrehte sich schmerzhaft. Der Schmerz war so intensiv, dass sie kaum noch stehen konnte. Sie klammerte sich an einen Baum, während ihr schwarz vor Augen wurde.
Shen Hanyu bemerkte, dass etwas nicht stimmte, drehte sich sofort um und eilte zu ihrer Hilfe. „Was ist los?"
„Shen Hanyu, ich... mir tut der Magen weh...", presste Sang Qianqian mühsam hervor, als würde jemand eine Schere in ihrem Bauch umdrehen.
Ihr Gesicht war in kürzester Zeit bleich geworden, kalter Schweiß perlte von ihrer Stirn.
Sie waren nahe dem Fuß des Berges Yu. Es würde nicht lange dauern, das Personal herbeizurufen.
„Steig auf, ich trage dich", sagte Shen Hanyu mit tiefer Stimme, während er sich hinkniete.
Leicht verdutzt, aber ohne bessere Alternative, ließ Sang Qianqian es zu.
Shen Hanyu nahm sie huckepack und eilte den Berg hinunter.
Am Fuß des Berges war ein Shuttlebus geparkt, neben dem sich zwei Mitarbeiter unterhielten.
„Zum Krankenhaus", sagte Shen Hanyu, als er herüberging.
Auf der Yushan-Insel gab es ein Krankenhaus, dessen Ärzte schon im Einsatz waren, um die Eröffnung am nächsten Tag zu gewährleisten. Das hatte Shen Hanyu von den Mitarbeitern erfahren.
Die beiden Angestellten öffneten eilig die Tür, damit sie einsteigen konnten. Mit Höchstgeschwindigkeit ging es direkt zum Krankenhaus.
Sang Qianqian kauerte auf ihrem Stuhl, die Augen leicht geschlossen. Ihr Gesicht war fahl, ihre Lippen farblos und ihre Haare sowie Kleidung durchtränkt von Schweiß.
Als der Shuttlebus endlich anhielt, hob Shen Hanyu sie an der Taille hoch und rannte, so schnell er konnte, in die Notaufnahme.
Als Sang Minglang und Wen Xu eintrafen, war Sang Qianqian noch immer nicht aus der Notaufnahme heraus. Shen Hanyu wartete draußen.
„Was machen Sie so spät nachts mit meiner Schwester Qiang da oben?", fragte Wen Xu hitzköpfig, als er heranrannte und Shen Hanyu am Kragen packte. „Haben Sie ihr etwas angetan, damit sie jetzt im Krankenhaus ist?!""Wenn Sie es wissen wollen, fragen Sie sie selbst."
Shen Hanyu blickte Wen Xu kalt an. "Lassen Sie los."
"Wen Xu, warte auf den Arzt und verschaffe dir einen klaren Überblick über die Situation." sagte Sang Minglang mit leiser Stimme.
Wenn Shen Hanyu seiner Schwester wirklich etwas angetan hatte, würde er nicht dafür bezahlen können, selbst wenn zehn Mitglieder der Familie Shen sterben würden.
Wen Xu wusste, dass er im Unrecht war, und löste den Kragen von Shen Hanyu.
Nach einer Weile öffnete sich endlich die Tür zur Notaufnahme. Sang Qianqian hing an einem Tropf und wurde auf ein Bett geschoben.
"Frau Sang hatte zu viele kalte Getränke zu sich genommen, und ihre Magenschleimhaut war aufgewühlt, so dass sie plötzlich Bauchschmerzen bekam.
Der Arzt wies sie an: "Sie müssen dafür sorgen, dass sie sich in der Folgezeit ausruht. Außerdem sollten Sie versuchen, weniger kalte Dinge zu sich zu nehmen."
Sang Minglang stimmte schnell zu. Als er die bleiche Sang Qianqian sah, tat ihm das Herz weh. "Das ist alles die Schuld des Bruders. Ich hätte dir vorhin kein Eis geben sollen. Ich werde Onkel Zhong später sagen, dass wir zu Hause keine kalten Sachen mehr haben werden."
"Was? Der Arzt hat gesagt, ich solle weniger essen; er hat nicht gesagt, ich solle aufhören..." argumentierte Sang Qianqian schwach.
"Schwester, du bist schon so, und du hast immer noch vor zu essen!"
Wen Xu stürzte sich auf das Bett. "Weißt du, dass du Bruder Minglang und mich fast zu Tode erschreckt hast? Wir dachten, Shen Hanyu schikaniert dich!"
Er drehte sich um, um nach Shen Hanyu zu suchen. "Apropos, wo ist er? Er war doch eben noch hier, wie ist er verschwunden..."
"Er hat mich nicht schikaniert."
Sang Qianqian starrte ihn an. "Hattest du wieder Ärger mit ihm?"
Wen Xu kratzte sich am Kopf. "Nein, du kannst Bruder Minglang fragen, wenn du mir nicht glaubst."
Sang Minglang sah seine Schwester nachdenklich an. "Was haben du und Shen Hanyu so spät in der Nacht auf dem Berg gemacht?"
"Ach, nichts. Ich wollte zur Ahnenhalle gehen, um nachzusehen, und habe ihn zufällig getroffen. Als wir dann den Berg hinuntergingen, hatte ich Bauchschmerzen, und er hat mich ins Krankenhaus geschickt."
Ihre Antwort war so offen, dass Sang Minglang keinen Verdacht mehr schöpfte.
Nachdem er Sang Qianqian zurück in ihr Zimmer begleitet hatte, sagte Sang Minglang: "Du bist krank, also spiel nicht herum. Ich werde morgen früh jemanden holen, der dich nach Hause schickt."
Sang Qianqian war sprachlos. "Also gut."
Nach reiflicher Überlegung rief sie Shen Hanyu auf ihrem Telefon an. "Danke für heute."
"Gern geschehen", sagte Shen Hanyu kurz und leise am anderen Ende des Telefons.
"Ach ja, mein Bruder hat gesagt, dass er morgen früh jemanden schicken wird, der mich nach Hause bringt. Ihr könnt also noch bis zum Nachmittag auf der Insel bleiben, bevor ihr abreist. Onkel Shens Auto wird dich und Sitong am Nachmittag abholen, richtig?"
"Ja." erwiderte Shen Hanyu.
Am Telefon schienen sich die beiden, die sich anfangs nicht kannten, noch mehr zu entfernen.
Sang Qianqian zögerte zwei Sekunden lang. Dann, gerade als sie sich verabschieden wollte, sagte Shen Hanyu plötzlich: "Ich habe von Sitong gehört, dass du in ein paar Tagen nach Übersee gehst. Wann wirst du abreisen?"
"Übermorgen", antwortete sie schnell.
Am anderen Ende der Leitung herrschte einen Moment lang Stille. "Ich wünsche Ihnen eine gute Reise."
"Danke", sagte sie.
Seit sie Xia Sitong gerettet hatte, hatte sich Shen Hanyus Einstellung ihr gegenüber deutlich verändert.
Es schien, als hätte sie sich mit Shen Hanyu versöhnt.
Das bedeutet, dass der Albtraum nie wieder passieren würde, oder?
In dieser Nacht schlief Sang Qianqian besonders fest. Erst mitten in der Nacht wurde sie durch ein dringendes Klopfen an der Tür geweckt.