Kapitel 6: Die Entscheidung liegt nahe
Die Pausenhofsonne schien, doch Akio bemerkte sie nicht. Alles, was er fühlte, war die Hitze der Worte, die Kevin auf ihn niederprasseln ließ. „Da ist er, der kleine Junge ohne Papa. Vermisst du ihn immer noch?"
Akio blieb stehen, versuchte ruhig zu atmen. Doch Kevins Grinsen machte es unmöglich, die Wut zu ignorieren. „Hör auf."
„Oh, die Heulsuse kann reden!" Kevin ging einen Schritt näher. „Und was machst du? Rufst du deine Mama? Oder fängst du gleich wieder an zu weinen?"
Akio wollte etwas sagen, doch die Worte blieben in seinem Hals stecken. Er ballte die Fäuste und starrte auf den Boden. „Hör einfach auf."
„Warum sollte ich?" Kevin lachte. „Du bist doch so ein tolles Opfer. Immer schwach, immer allein."
Plötzlich fühlte Akio etwas in sich aufsteigen – ein schweres, beklemmendes Gefühl, das er nicht unterdrücken konnte. Die Umgebung um ihn schien sich zu verändern, als ob alles leiser und weiter weg wurde. Kevins Stimme schien seltsam verzerrt, doch sie stach immer noch durch.
„Du bist ein Nichts ohne deinen Papa. Aber vielleicht war er auch einfach froh, dich loszuwerden."
Akios Kopf schoss hoch, und er sah Kevin an, seine Augen brannten. „Sag das nicht."
Kevin grinste. „Was? Die Wahrheit tut weh, oder?"
Akio ging einen Schritt nach vorn. Kevin wich zurück – nicht aus Angst, sondern aus Überraschung. Doch plötzlich hielt er inne. Seine Füße fühlten sich schwer an, als ob der Boden sie hinunterziehen würde.
„Was…?" Kevin sah auf seine Beine, die sich nur schwer bewegen ließen. „Was ist das?"
„Hör auf!" Akios Stimme war laut, doch nicht direkt an Kevin gerichtet. Es war, als ob er mit etwas anderem sprach – mit sich selbst vielleicht.
„Warum aufhören?" Kevins Worte wurden schwächer, und sein Gleichgewicht schien ihn zu verlassen. „Du bist… ein Freak."
Und dann war sie da. Die Stimme. Ein Flüstern, das Akios Gedanken durchdrang wie ein Echo. „Er verdient es."
Akio blieb stehen. Sein Herz raste, doch er konnte nicht wegsehen. Die Stimme war ruhig, vertraut, wie seine eigene innere Überzeugung. „Du weißt, dass er es verdient hat. Hör nicht auf."
Akio blinzelte. Seine Hände zitterten, doch er hob sie langsam. Kevin taumelte, als ob unsichtbare Hände ihn nach unten drückten.
„Akio, lass ihn!" rief Auron, doch Akio reagierte nicht. Die Stimme war lauter, klarer.
„Zeig ihm, dass er dich nicht mehr verletzen kann. Zeig ihm, was es bedeutet, schwach zu sein."
Kevin fiel zu Boden, doch Akio beugte sich über ihn, packte ihn am Hals und drückte zu. „Du hörst auf. Hörst du? Du hörst endlich auf!"
Kevins Augen weiteten sich, als er nach Luft rang. Die anderen Kinder standen erstarrt da, unfähig zu reagieren. Die Luft um die beiden wurde schwerer, als ob etwas Unsichtbares auf sie drückte.
„Ja", flüsterte die Stimme in Akios Kopf. „Genau so. Zeig ihm, wer du bist."
„Akio, lass ihn los!" Auron trat näher, doch er hielt inne. Etwas hielt ihn zurück, etwas, das er nicht sehen konnte.
„Tu es", drängte die Stimme. „Er hat dich erniedrigt, immer wieder. Lass ihn fühlen, wie es ist."
Akios Hände drückten fester. Kevin versuchte zu schreien, doch es kam kein Ton heraus. Akio hörte nur noch die Stimme.
„Akio!" Die Stimme seiner Lehrerin durchbrach das Flüstern in seinem Kopf. Akio blinzelte, sein Griff lockerte sich. Kevin fiel schwer atmend zu Boden, und Akio trat zurück, als ob er aus einem Traum erwacht wäre.
„Was… was ist passiert?" Akio schaute auf seine zitternden Hände. Kevins Freunde eilten herbei, um ihn hochzuheben, doch ihre Blicke waren auf Akio gerichtet – voller Angst und Unverständnis.
Frau Wirsing trat näher, ihre Stimme scharf. „Akio, was hast du getan?"
Akio sah sie an, seine Augen voller Verwirrung und Angst. „Ich… ich wollte das nicht. Ich… es war nicht meine Schuld… Er hat gesagt…" Akio suchte nach Worten. Schließlich fügte er hinzu: „Er hat es mir gesagt."
„Wer?" fragte Frau Wirsing verwirrt.
„Er. Er wollte, dass ich es mache," murmelte Akio.
„Akio, hier war niemand. Niemand hat so etwas gesagt," entgegnete Frau Wirsing, doch Akio schüttelte den Kopf. „Er war da. Ihr habt ihn vielleicht nicht gehört, aber ich habe es gehört!"
Die Lehrerin schaute in die Runde, doch keiner der umstehenden Schüler bestätigte Akios Worte. Lirien und Auron tauschten besorgte Blicke aus. Sie hatten Akio noch nie so erlebt.
Frau Wirsing entschied, Kevin ins Krankenzimmer bringen zu lassen. Akio und die verbleibenden Schüler wurden zur Rede gestellt, doch die Details blieben unklar. Kevin erholte sich nach einer Weile, und beide Jungen wurden für den Rest des Jahres von allen schulischen Aktivitäten ausgeschlossen. Ein Annäherungsverbot wurde verhängt, und Akio erhielt einen Brief, in dem seine Mutter gebeten wurde, ihn zu einem Magiearzt zu bringen. Der Grund blieb Akio unklar, doch die Nachricht beunruhigte seine Mutter zutiefst.
Die letzten Schultage verliefen ruhig, aber die Vorfreude auf das große Theaterstück war bei den verbleibenden Schülern ungebrochen. Die Klasse hatte lange und hart daran gearbeitet. Mithilfe der Eltern war die Bühne fertiggestellt worden, und magische Technologien machten es möglich, die fantastischen Welten des Stücks lebendig wirken zu lassen. Doch Akio und Kevin waren nun nur noch Zuschauer.
Sophie, die die Rolle der großen Liebe der Prinzessin spielte, hatte gemischte Gefühle. Sie hätte Akio gern auf der Bühne gesehen, wusste aber, dass er nicht teilnehmen durfte. „Vielleicht eines Tages," dachte sie, während sie sich auf die Bühne vorbereitete.
Für Sophies Onkel, den erfahrenen Reporter Dimitrios Dinos, war dies die perfekte Gelegenheit, seiner kleinen Nichte die Bühne der Aufmerksamkeit zu bieten. „Oh Sophie, du wirst ein Star sein," murmelte er stolz und richtete seine Kamera aus.
Das Theaterstück sollte ein Triumph werden, ein Symbol für den Abschied von der gemeinsamen Klassengemeinschaft. Doch für Akio war es ein bittersüßer Moment, der die Tür zu einer neuen Phase seines Lebens öffnete, während die Stimme in seinem Kopf leise, aber spürbar blieb.
Morgen kommt dann Teil 2 von "Die Entscheidung liegt nah."
Es geht dann um die Proben für das Theaterstück.
Bis dahin: Benimm dich!