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Alt und schäbig

Austin Hall wandte sich von dem hohen Stapel von Dokumenten ab. Sein Chef Liam saß dort und kicherte albern vor sich hin, das Gesicht in sein Handy vertieft und mit einem idiotischen Lächeln, das Austin noch nie zuvor gesehen hatte. Er konnte nicht einschätzen, ob dies als gutes oder schlechtes Zeichen zu werten war.

Aus Neugier positionierte sich Austin hinter Liam und spähte über dessen Schulter, um herauszufinden, was so erheiternd war. Doch kaum hatte er einen Blick erhascht, sperrte der junge Mr. Bennet blitzartig seinen Bildschirm und schirmte sein Telefon vor dem übermäßig neugierigen Assistenten ab.

"Hör auf zu spionieren, Austin! Dafür wirst du nicht bezahlt."

"Aber da irren Sie sich gewaltig, Mr. Bennet", entgegnete Austin und schenkte seinem Chef dabei ein breites Grinsen. "Ihr Großvater hat mich genau für diese Aufgabe eingestellt - um auf Sie aufzupassen. Und gewährleisten, dass Sie Ihren Pflichten nachkommen und sich nicht vor der Arbeit drücken, wie Sie es oft tun."

Liam seufzte nur.

"Deine Rolle ist es, zuerst mein Assistent zu sein und erst dann, der Spion meines Großvaters."

Unbeeindruckt schüttelte Austin den Kopf und klickte missbilligend mit der Zunge. Er legte Liam einen Stapel Dokumente vor und reichte ihm einen glänzenden schwarzen Stift.

"Wenn Sie erwarten, dass ich als Ihr Assistent fungiere, dann sollten Sie sich auch wie mein Arbeitgeber verhalten. Los jetzt, wir haben viel Papierkram zu erledigen, bevor wir eine Pause machen können. Ich für meinen Teil würde gerne zu Mittag essen, bevor es Abend wird."

Mit einem theatralischen Stöhnen ergriff Liam schließlich den Stift und nickte.

"In Ordnung, bringen wir es hinter uns. Du bist ja schlimmer als mein Großvater!"

***

Nachdem Amelie sich beruhigt und ihr Äußeres gerichtet hatte, überlegte sie, ob es klug sei, ins Büro von JFC zu gehen anstatt von ihrem Hotelsuite aus zu arbeiten.

Ein leises, nervöses Zittern durchfuhr sie, als sie ihren Terminkalender betrachtete. Heute war offensichtlich nicht ihr Tag. Um nicht zu riskieren, ihre Arbeit schlecht zu verrichten, übertrug Amelie den Großteil ihrer Aufgaben an ihre Assistenten und beschloss, sich stattdessen den Tag freizunehmen.

Sie wechselte in bequemere Kleidung, steckte ein Buch in ihre Tasche und beschloss, den Nachmittag in ihrem Lieblingscafé zu verbringen.

Das Buchcafé, ein altmodischer, um diese Uhrzeit meist leerer Ort, war Amelies Refugium aufgrund seiner einzigartigen Atmosphäre, der sanften Musik und des originellen Designs. Die vielen Bücherregale waren prall gefüllt mit Büchern in verschiedensten Sprachen, die sich die Gäste nicht nur zum Lesen ausleihen, sondern auch mitnehmen konnten. Amelie las die Bücher dieses Cafés schon seit ihren Schultagen.

Die Speisen und Getränke, alle hausgemacht von der Besitzerfamilie, waren etwas Besonderes. Die Rezepte, vor allem der Desserts, waren ein streng gehütetes Familienerbstück, von Generation zu Generation weitergegeben, unvergessen wegen ihres hausgemachten Geschmacks.

Doch das, was Amelie am meisten an dem Café schätzte, war der kleine, gemütliche Garten. Als langjährige Stammkundin kannte sie jeder Angestellte und sie hatte sogar ihren eigenen Stammplatz, einen Sessel im Garten unter den breiten Ästen eines Cornus-Baumes.

Auf dem akkurat gepflegten Steinweg des kleinen Gartens ging Amelie, ihr Buch fest an sich gepresst. Sie sehnte sich danach, sich in die weiche Umarmung des Sessels fallen zu lassen, umgeben vom wohltuenden Duft der blühenden Blumen.

Doch zu ihrem Entsetzen war an diesem Tag an Gemütlichkeit nicht zu denken.

In dem Moment, als sie ihren Lieblingssessel erblickte, erstarrte sie. Dort saß jemand, der ihr nur allzu bekannt war.'Es war Samantha. Auch sie bemerkte Amelie und sprang auf, um sie mit einem fröhlichen Gruß zu empfangen. "Ame... ich meine, Mrs. Ashford! Guten Nachmittag! Was für eine angenehme Überraschung. Ich hätte nicht gedacht, dass Sie Orte wie diesen hier besuchen, die alt und heruntergekommen sind."

'Alt und heruntergekommen?'

Amelie warf einen Blick auf den Sessel, den Samantha gerade besetzt hatte, und zog die Stirn kraus.

'Als ob es nicht schon genug wäre, dass ich mich in meinem eigenen Haus unwohl fühle, jetzt dringt sie auch noch in meine Lieblingsplätze ein?'

Verärgert schleuderte Amelie ihr Buch auf den hölzernen Couchtisch neben dem Sessel und sagte mit kalter Stimme: "Entschuldigen Sie, Miss Blackwood, aber dies ist mein bevorzugter Platz, und der Besitzer dieses Cafés weiß das. Es gibt hier genügend angenehme Plätze. Ich schlage vor, Sie suchen sich einen anderen, besonders da ich nicht sehe, dass Sie überhaupt etwas bestellt haben."

Samantha sah bestürzt aus. Unter Amelies durchdringendem Blick wich sie sogleich vom Sessel zurück, und Mrs. Ashford nahm ihn ein, als sei es ihr gebührender Thron. Ohne der Frau weitere Beachtung zu schenken, öffnete Amelie ihr Buch und vertiefte sich in die Seiten.

Doch Samantha dachte nicht daran, schon zu gehen. Amelie seufzte schließlich und fragte: "Haben Sie mir etwas mitzuteilen, Miss Blackwood?"

Samantha rückte einen Stuhl an Amelies Seite und setzte sich nieder, immer noch vergnügt klingend.

"Ist es nicht nett, wie wir ständig aufeinandertreffen? Das bedeutet, wir müssen wohl die gleichen Dinge und Orte mögen. Das finde ich wirklich aufregend."

Amelie hob eine Augenbraue; was die Frau sagte, ergab keinen Sinn.

'Kann sie wirklich so verblendet sein? Ich komme seit Jahren in dieses Café und habe sie kein einziges Mal gesehen. Für all meine Lieblingsplätze gilt das Gleiche. Und sie hat dieses Café gerade als heruntergekommen bezeichnet – sagt man so etwas wirklich über seinen Lieblingsort?'

Amelie hatte keine Lust auf eine Auseinandersetzung, also behielt sie ihre Gedanken für sich. Samantha unterbrach das Schweigen mit einer weiteren seltsamen Bemerkung: "Ich finde das gut. Ich sehe darin einen Anlass, Freundschaft zu schließen."

Mrs. Ashford konnte sich ein bitteres Lachen nicht verkneifen.

"Freunde? Ich habe genügend Freunde, Miss Blackwood. Unter welchen Umständen auch immer, Ehefrauen können nie mit Geliebten befreundet sein. Vielleicht sollten Sie sich jemanden suchen, der Ihnen ebenbürtig ist."

Samanthas Gesicht verdüsterte sich, und ihr Verhalten änderte sich, wurde etwas Neuem und Ungewohnten. Für einen Augenblick fragte sich Amelie, ob die falsche Fassade endlich fallen würde. Zu ihrer Enttäuschung verwandelte sich Samanthas Miene schnell in einen Ausdruck von Kummer und Schmerz.

Sie stand auf und sagte leise: "Nun, das tut mir leid... Ich sollte dann wohl besser gehen."

Samantha gab ihrer Assistentin ein Zeichen, ihr zu folgen, drehte sich um und verließ den Ort. Amelie beobachtete sie, und als sie endlich weg war, lehnte sie sich zurück, schloss die Augen und atmete tief aus.

"Ich habe genug davon."

Sie öffnete die Augen und ließ den Blick über den ruhigen Garten schweifen, versuchte das Gefühl der Ruhe wiederzufinden, das ihr der Ort normalerweise gab. Die leuchtenden Blumen, das sanfte Blätterrauschen und das entfernte Stimmengewirr aus dem Café vermischten sich zu einer beruhigenden Atmosphäre.

Amelie atmete tief ein und entschied, die Anspannung loszulassen. Sie griff wieder nach ihrem Buch, fest entschlossen, sich in die Welt der Seiten zu versenken. Die Worte zogen sie allmählich in ihren Bann und halfen ihr, die unangenehme Begegnung zu vergessen.

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