Am nächsten Tag war Nan Hua sprachlos, als sie sah, wie ihre drei Dienerinnen sie aufputzten. Es fühlte sich an, als sei sie in eine echte Puppe verwandelt worden, so lange hatten sie heute für das Ankleiden gebraucht. Als sie in den Bronzespiegel blickte, konnte sie mit Sicherheit sagen, dass sie ihr Bestes gegeben hatten.
Die hundert Trauertage waren bereits verstrichen, daher musste Nan Hua keine weißen Kleider mehr tragen. Jetzt trug sie ein leuchtend blaues Brokatkleid. Ihr langes schwarzes Haar war zurückgeflochten, und eine kleine rote Blume war darin platziert worden. Sie sah sogar aus der Ferne wunderschön aus.
"Hua'er, bist du bereit?" fragte Nan Luo von draußen. Er betrat ihr Zimmer nicht, sondern wartete draußen.
Als Nan Hua hinaustrat, konnte sie sehen, dass ihr Zwillingsbruder ebenfalls hellblaue Kleidung trug. Sein Haar war sorgfältig nach hinten gekämmt und zu einem Knoten gebunden. Seine dunklen, obsidianfarbenen Augen glänzten, als er seine Zwillingsschwester erblickte.
"Hua'er, du siehst am besten aus!"
"Luo sieht auch gut aus", entgegnete Nan Hua.
Nan Luo strahlte. "Natürlich sehe ich immer gut aus, aber mit Hua'er kann man mich nicht vergleichen!"
Hinter Nan Hua blinzelte Xiao Yun mit den Augen. Sie hatte das Gefühl, dass der junge Meister Nan mit der Zeit immer unverschämter wurde. Leicht den Kopf hebend, bemerkte sie, dass auch Nan Luos Diener einen Hauch von Hilflosigkeit in seinen Augen zeigte.
Es schien, als seien auch Nan Luos Diener dem Verhalten ihres jungen Herrn gegenüber machtlos.
Die Kinder stiegen in die Kutsche, um zur Residenz der Familie Long zu fahren. Nan Si Qiao würde eine andere Kutsche nehmen, da sie mit ihren Kindern kam. In der Hauptstadt versammelten sich derzeit viele Leute, um den Geburtstag der alten Madame Long zu feiern.
Die alte Madame Long mochte vielleicht nicht besonders beliebt sein, aber die Familie Long war einflussreich. Wie könnten sie ihr Gesicht verlieren, wenn eine solche Familie sie eingeladen hätte?
Deshalb kamen sie alle.
"Wow, es ist ganz schön voll hier", bemerkte Nan Luo, als sie kurz vor dem Eintreffen waren. "Hua'er, meinst du, es wird später viel zu essen geben?"
Nan Hua schaute zu Nan Luo und dann zum Fenster. Ihre Augen flackerten unmerklich. "Natürlich wird es viel Essen geben."
"Das ist gut! Du musst viel essen, Hua'er, damit du stark wirst."
"En."
Mit seinen 8 oder 9 Jahren war Nan Luo ein wirkliches Kind, und er war unvergleichlich aufgeregt, als er alles draußen sah. Aber natürlich würde er diese Art von Auftreten niemals vor anderen zur Schau stellen. Er war nicht so taktlos, sein ungeziertes Verhalten anderen gegenüber zu offenbaren.
Er wollte nur, dass seine kleine Schwester lachte.
Auch Nan Hua beobachtete alles draußen. Ihre dunklen, obsidianfarbenen Augen verrieten nichts außer einer Ruhe, die nicht zu ihrem Alter passte. Langsam schloss sie die Augen, und als sie sie wieder öffnete, waren sie immer noch so kühl wie zuvor, nun aber mit einem Hauch von Unschuld und Unreife.
"Fräulein, Herr, wir sind angekommen."
Die beiden Kinder stiegen aus und warteten in der Nähe des Eingangs. Sie warteten auf Nan Si Qiao, die zwei Kutschen hinter ihnen war. Nan Hua beobachtete die anderen Gäste, die aus den Kutschen stiegen. Alle waren fein gekleidet und gehörten offensichtlich zu guten Familien.Aber natürlich kannte sie sie nicht.
"Hua'er, kleiner Luo!" grüßte Nan Si Qiao die beiden, als sie aus der Kutsche stieg.
Hinter ihr standen zwei Jungen in dunkelblauen Gewändern. Der Erste war etwa 14 Jahre alt und bereits so groß wie seine Mutter. Er hatte eine gebräunte Haut und buschige Augenbrauen, doch sein Gesicht strahlte ein Lächeln aus, als er die beiden Kinder erblickte. Der Zweite, etwas älter als die Zwillinge, war 10 bis 11 Jahre alt. Auch er trug dunkelblaue Kleidung, jedoch wirkte sein Gesichtsausdruck steif, und er nickte den beiden nur kurz zu.
"Tante! Bruder Feng Ao Si, Bruder Feng Ao Kuai!" grüßte Nan Luo sie freudig, gefolgt von Nan Hua mit ihrem gewohnt kühlen Ton.
Beide trugen seit der Heirat Nan Si Qiaos den Nachnamen ihres Vaters, Feng. Feng Ao Si war der Ältere, während Feng Ao Kuai der Jüngere war.
"Ihr seid ja früh dran," bemerkte Feng Ao Si, bevor er mit einem strahlenden Lächeln fortfuhr: "Kommt, lasst uns drinnen spielen. Ich habe gehört, dass die alte Frau Long extra für dieses Mal den Hinterhof als unseren Spielplatz hergerichtet hat."
"Echt? Das bedeutet, ich kann nach Herzenslust spielen!" Auch Nan Luo war begeistert.
Feng Ao Kuai schaute zu seinem älteren Bruder, schien aber gar nicht begeistert zu sein. Seiner Meinung nach waren sie nur da, um den Geburtstag von Frau Long zu feiern, was ihn nicht interessierte.
"Komm herein und achte auf deine Worte."
"Ja, Mutter."
"Ja, Tante!"
Nan Si Qiao lächelte über die Antwort der Kinder und führte sie hinein. Die Diener konnten nur von hinten folgen und hielten dann Abstand, da es ihnen nicht gestattet war, das Haus zu betreten und am Fest teilzunehmen.
Normalerweise waren die Bereiche für Männer und Frauen getrennt, doch für Kinder galt das nicht. Da Frau Long selbst junge Kinder hatte, stellte sie ihnen den Hinterhof zum Spielen zur Verfügung, gemeinsam mit den anderen Damen.
Nan Si Qiao schaute zu ihrem ersten Sohn. "Ao Si, wird es dir drinnen unangenehm sein?"
"Warum sollte ich mich unwohl fühlen?" entgegnete Feng Ao Si. "Ich will mit Luo spielen! Es ist ermüdend, so lange an der Front zu sein!"
"Also gut, aber sei vorsichtig, dass du die anderen Kinder nicht verärgerst."
"Ja, Mutter!"
Nan Si Qiao sah ihren ältesten Sohn an und fühlte sich etwas ratlos. Feng Ao Si war zwar von Natur aus mit einem guten Kampfkunsttalent gesegnet, doch es mangelte ihm an Selbstbewusstsein und Verstand.
Sie wandte sich an ihren zweiten Sohn. "Ao Kuai, kümmere dich bitte um deinen Bruder."
"Ja, Mutter", antwortete Feng Ao Kuai gefasst.
So kam es, dass der Jüngere sich um den Älteren kümmern musste.