Kapitel 59: Was die Erde fühlt
Es waren einige Tage vergangen, und Akio war erneut zu Besuch bei den Jugendrebellen. Dieses Mal führte Elaran ihn in einen abgegrenzten Bereich im hinteren Teil des Anwesens.
E: "Wie würdest du es finden, wenn wir dir heute dein Element bestimmen?"
A: "Kann man das denn? Muss ich dafür nicht zum Arzt gehen?"
E: "Zum Arzt? Wegen so einer Kleinigkeit? Nein, wir machen das hier und jetzt."
A: "Wie denn sonst? Meine Mutter und auch meine Lehrer haben mir immer gesagt, dass ich wegen fast allem immer zuerst zum Arzt gehen soll."
E: "Das ist wohl etwas übertrieben. Und glaub mir, die Ärzte wollen auch nicht ständig von Kleinigkeiten überrannt werden, die man locker alleine lösen könnte."
A: "Was heißt das dann jetzt für mich? Wie willst du mich denn testen?"
E: "Erst einmal müssen wir die Stärke und die Art deines Mana erfahren. Das machen wir zusammen mit der Vase. Danach erfährst du auch, was deine Intention in der Magienutzung ist. Vielleicht verrät sie uns, ob du „böses" oder „gutes" Mana hast."
A: "Ach so!? So einfach geht das?"
E: "Ja, was dachtest du denn?"
A: "Ich dachte, das dauert lange, mit tausend Tests und einer Impfung."
E: "Was für eine Impfung? Wer hat dir das denn erzählt? Nein, das brauchst du alles nicht. Wir testen direkt danach, wie du am besten deine Magie anwenden kannst."
A: "Ich darf Magie anwenden? Ist das nicht verboten?"
E: "Im Sinne einer Überprüfung ist das erlaubt."
A: "Ok!? Wann machen wir das genau?"
E: "Wie gesagt, hier und jetzt. Auf diesem Grundstück."
Elaran zeigte auf die große Vase, die mit vielen Schriftzeichen und Symbolen bedeckt war.
Der Test mit der Vase
E: "Stell dich vor die Vase und berühre sie mit deiner Hand. Keine Sorge, sie wird dich nicht beißen."
Akio trat ein paar Schritte nach vorne und stand unmittelbar vor der Vase. Er streckte seine Hand aus, um die Vase zu berühren, doch dann zögerte er.
A: "Soll ich die wirklich berühren? Was, wenn ich sie kaputt mache?"
E: "Selbst wenn du das Schaffen solltest, würde ich dir nur gratulieren. Du wärst der Erste."
A: "Wie...? Was...?"
E: "Mach dir keine Sorgen, es wird schon nichts passieren."
Mit einem tiefen Atemzug streckte Akio seine Hand erneut aus und berührte die Vase. Plötzlich durchfuhr ihn eine Flut von Emotionen.
Akios Vision
Angstschreie, Hass und Wut in der Luft. Kreischende Kinder und fauchende Tiere. Ein zerrissener Himmel, der die Welt spaltet. Panik und Angst umgaben alles, und der Boden verbrannte die Beine von jedem, der ihn berührte. Ein grausames Lachen hallte durch die Szenerie, begleitet von einem Wahnsinn, der die Seele erschütterte. Blut überall.
Akio schrie auf, fiel nach hinten, und die Vase geriet ins Wanken. Elaran fing sie auf und stellte sie zurück, bevor er sich um Akio kümmerte.
E: "Was ist passiert? Was hast du gesehen?"
A: "I... ich... Nein... Nein... NEIN! Wa... Was war das?"
E: "Ich weiß nicht, was du gesehen hast, aber es war wohl nicht so schön. Was genau hast du erlebt?"
A: "Angst... Ich habe Angst gesehen. Menschen, die weinten und schrien. Es war schrecklich."
E: "Und wie fühlst du dich jetzt?"
A: "Es erinnert mich an meinen Traum... einen schrecklichen Alptraum."
E: "Vielleicht war es eine Warnung der Vase. Sie wollte dir zeigen, worauf du aufpassen musst – oder was du verhindern könntest."
A: "Nein... Die Vase hasst mich!"
E: "Das ist unmöglich. Vasen können nichts fühlen. Sie tragen nur das Mana ihrer Schöpfer in sich."
A: "Aber was war das dann? Dieses Lachen... ich kenne es."
E: "War es jemand, den du kennst?"
A: "Nein, keine Person. Nur Schreie, Weinen und dieses Lachen."
Elaran hielt kurz inne, sein Blick wanderte zur Vase, dann zurück zu Akio.
E: "Es ist schwer zu sagen, was die Vase dir zeigen wollte. Vielleicht ein Streich. Aber mach dir keine Sorgen. Du bist nicht allein."
Der Praxistest beginnt
E: "Um mehr darüber zu erfahren, was in dir steckt, brauchen wir eine andere Methode. Komm mit in den Garten."
Akio folgte Elaran nach draußen, wo ein abgegrenzter Bereich vorbereitet war. Markierungen auf dem Boden und leuchtende Linien deuteten auf magische Sicherungen hin.
A: "Was genau machen wir hier?"
E: "Das ist ein Praxistest. Du hast gesagt, du könntest ein Erd- oder Gravitationsmagier sein. Jetzt finden wir es heraus. Die Markierungen hier helfen, deine Energie zu fokussieren, und ich werde dich dabei leiten."
Elaran deutete auf einen Punkt in der Mitte der Markierungen.
E: "Stell dich dort hin und konzentriere dich. Stell dir vor, dass du die Erde unter dir bewegen kannst – so, wie ein Maler eine Leinwand gestaltet."
Akio trat auf den markierten Punkt und schloss die Augen. Er versuchte sich vorzustellen, wie sich die Erde unter ihm formte, doch nichts geschah.
A: "Ich glaube, ich mache es falsch. Es passiert nichts."
E: "Das ist in Ordnung. Stell dir jetzt vor, dass die Erde dir gehorcht. Sie wartet nur auf deinen Befehl."
Akio atmete tief ein und aus, bevor er erneut die Augen schloss. Dieses Mal stellte er sich vor, dass er der Herrscher der Erde war. Plötzlich begann der Boden leicht zu beben, und ein kleines Loch formte sich direkt vor seinen Füßen.
A: "Es hat funktioniert!"
E: "Ja, das hat es. Aber sag mir, was hast du dabei gedacht?"
A: "Ich wollte einfach nur, dass es funktioniert. Ich habe mir vorgestellt, dass die Erde mir zuhört."
Elaran nickte langsam, doch seine Stirn legte sich in Falten.
E: "Magie zeigt sich immer in der Intention und dem Willen des Anwenders, also sehen wir nach, was du damit erreichen wolltest."
A: "Ich glaube, ich wollte die Erde verbiegen, damit ich da durch gehen kann."
E: "Interessant, wie du das siehst. Aber Erde verbiegt man nicht. Erde wird verschoben oder ausgegraben. Das war aber keine Verschiebung und auch keine Ausgrabung. Die Erde wurde nicht nach oben geschaufelt, sondern weiter nach unten gedrückt."
A: "Was heißt das jetzt?"
E: "Das heißt wohl nur noch eins: Glückwunsch, du bist ein Gravitationsmagier, der mit Worten Magie anwenden kann."
Elaran schüttelte leicht den Kopf, als würde er gegen einen inneren Zweifel kämpfen, dann sprach er weiter.
E: "Normalerweise bedient man sich bei der Magieanwendung auf einem Todsündenfaktor."
A: "Todsünden? Das klingt gruselig."
E: "Die Todsünden sind auch als Ursünden oder Ursprung der Sünden bekannt. Die ersten Sünden, die die Menschen von den Göttern trennten."
A: "Aber wieso dann Todsünden?"
E: "Die Sünden der Menschen waren so schlimm, dass sie die Verbindung zu den Göttern verloren, und diese ihnen dadurch nicht mehr so viel Lebensenergie gaben. Sie starben nun viel jünger und mit viel mehr Stress in ihrem Leben. Es ist sowohl symbolisch als auch geschichtlich so zu sehen."
A: "Hatten die Menschen denn einen Grund, gegen die Götter zu sein und Sünden zu machen?"
Elaran hielt inne. Sein Blick verlor sich für einen Moment in der Ferne, als würden Erinnerungen an eine andere Zeit ihn einholen.
E: "Es ist schwer zu sagen. Vielleicht wollten sie unabhängig sein. Vielleicht waren sie stolz. Aber worauf es wirklich ankommt, ist, dass die Magie sich damals stark durch diese Sünden zeigte. Der Stolz zwang das Mana in Form. Die Faulheit machte es effizient. Ohne diese Verbindung schien Magie fast unmöglich."
A: "Aber das stimmt doch nicht. Ich habe doch auch ohne so etwas Magie benutzt!"
E: "Genau das macht mich nachdenklich, Akio. Vielleicht hat sich Magie verändert, während ich... nun ja, beschäftigt war. Was ich sehe, ist etwas Neues. Magie, die ohne den Druck einer Todsünde funktioniert. Eine Art, die nicht von Kampf und Überleben geprägt ist. Das... das ist wirklich bemerkenswert."
Akio schaute ihn neugierig an.
A: "Ist das nicht etwas Gutes?"
E: "Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Magie war früher immer mit Verantwortung verbunden. Wenn sie einfacher wird, frage ich mich, ob die Verantwortung genauso wächst – oder ob sie schwindet."
2.
Während Akio mit Elaran über Magie und Mana redete, saß Ferruccio in einem stickigen Ermittlungsbüro und durchforstete mit seinem Kollegen die immer gleichen Fotos vom Tatort. Die Mordserie war weiterhin ein Rätsel.
F: „Es scheint ein wirklich schwieriges Rätsel zu werden…"
Kollege: „Haben Sie denn einen weiteren Anhaltspunkt gefunden?"
F: „Nein, ich habe nicht das Gefühl, etwas übersehen zu haben… Konnten Sie noch etwas Neues erkennen?"
K: „Nein, ich sehe es mir immer wieder an, aber ich erkenne nichts Neues daran. Ich habe sogar das Blut auf Verunreinigungen durchsucht und Proben ins Labor geschickt, aber nichts. Wieso können sie mit dem Blut nichts anfangen?"
F: „Das Blut… Ich verstehe ebenso wenig, wie das sein kann. Blut ist wie Mana – es ist einzigartig und immer genau einer Person zuordenbar. Aber es scheint diese Person gar nicht zu geben. In anderen Fällen konnten wir das Blut zuordnen, aber nicht in diesem Fall. Immer stellt sich uns etwas in den Weg oder es wird immer bizarrer."
K: „Haben Sie etwas Neues bemerkt?"
F: „Nicht wirklich… Ich habe versucht zu erkennen, ob die anderen Tatorte etwas miteinander zu tun haben – vielleicht ein Symbol, eine Methode, ein Ritus, irgendwas. Aber die Standorte haben wohl nichts Weiteres miteinander zu tun, außer dass sie öffentliche Orte sind."
K: „Das ist wirklich schwierig, Herr Firenze…"
F: „Das Blut ist nicht zuzuordnen… Es hat keinen Ursprung…"
K: „Denken Sie, dass es falsches Blut ist? Künstliches Blut oder eine Blutmischung?"
F: „Nein, es muss echtes Blut sein, sonst hätten die aus dem Labor bereits etwas dazu gesagt. Aber warum ist es nicht identifizierbar? Diese Überlegungen haben keine Form und keine Kanten…"
Ferruccio lehnte sich zurück und ließ den Blick über die breit ausgelegten Fotos schweifen. Dann legte er den Kopf auf die Seite und begann, mit seinem Finger die Ecken der Bilder nachzufahren.
F: „Alles im Quadrat, ohne Kreise, ohne Rad…"
K: „Erfinden Sie jetzt Kinderlieder?"
F: „…Dreiecke ohne Punkt, wieso ist es hier nicht rund?"
K: „Bitte konzentrieren Sie sich noch ein wenig."
F: „…Ich will nur noch bunt malen. Die Ecken brauchen Farben…"
K: „Herr Firenze, bitte wachen Sie aus Ihrem Halbschlaf auf."
F: „Ha? Was ist passiert?"
K: „Sie haben irgendwelche Lieder vor sich hin und her gesungen und sind dabei wohl fast eingeschlafen."
F: „Ich wette, das war bestimmt ein sehr gutes Lied."
K: „Gut? Sie sind hier doch zum Arbeiten, nicht zum Kinderlieder schreiben."
F: „Kinderlieder?"
K: „Nana nana nanaaa… Bla bla bla bla bla blaaa… Ecken brauchen Farben…"
F: „Ja, farblose Ecken sind ja auch langweilig, genau wie auf diesen Fotos."
K: „Ja, aber darum geht es doch gar nicht. Diese Fotos…"
F: „…haben keine Farben in den Ecken… Wieso ist mir das nicht früher aufgefallen?"
K: „Wovon reden Sie? Was hat das jetzt damit zu tun?"
F: „Die Ecken haben keine Farben. Jedes einzelne Bild hat keine Farben in den Ecken. Das Blut ist an jedem Tatort immer stark verteilt, aber kein einziges Mal in den Ecken oder an den Wänden. Immer nur auf dem Boden."
K: „Und was bringt uns diese Erkenntnis?"
F: „Wie kann das sein? Wieso ist niemals Blut an den Wänden und Ecken, obwohl es sonst so aussieht, als ob das Blut wie wild herumgespritzt wurde?"
K: „Ich verstehe den Punkt nicht, auf den Sie hinauswollen."
F: „Das ist doch Wahnsinn. Wie kann das sein? Die Opfer hängen immer an den Wänden oder an den Bäumen, aber das Blut ist immer entfernt von ihnen. Die Opfer selbst sind aber unbefleckt. Kein einziger Tropfen an Blut an ihrer Kleidung oder an ihrer Haut."
K: „Aber Herr Firenze, wie kann das sein? Wenn die Opfer doch getötet wurden und es ihr Blut ist, das auf dem Boden war, wieso sind sie dann ohne einen einzigen Tropfen auf der Haut oder der Kleidung?"
F: „Es bestünde die Möglichkeit, dass die Opfer nach dem Tod gewaschen wurden und neue Kleidung angezogen bekommen haben, aber wieso?"
K: „Sie meinen, es wäre möglich, dass die Täter ihren Opfern neue Kleidung anziehen wollten, damit sie frei von Blut wären?"
F: „Vielleicht ist das der Grund. Ich meine auch, dass es zu den feinen Verbrennungen an den Hälsen der Opfer passen würde. Vielleicht ist einer der Täter wirklich ein Perfektionist!?"
K: „Aber das erklärt doch trotzdem nicht, wieso das Blut so verteilt ist und niemals die Wände berührt."
F: „Ich habe da noch eine Vermutung, die mir allerdings schon etwas Angst macht. Ich hoffe, dass ich damit falsch liege. Ich kenne ihre Fähigkeiten nicht, aber ich halte es für möglich, dass dahinter ein Schattenabsolute steckt, der den Raum in Schatten gehüllt hat, um die Flecken an den Wänden zu verhindern."
K: „Aber selbst wenn, warum hat er dann das Blut hiergelassen? Wieso hat er nicht gleich alles auf einmal abgedeckt, damit hier gar kein Blut mehr ist?"
F: „Vielleicht will er uns etwas zeigen. Vielleicht ist das seine Art, uns mitzuteilen, dass wir niemals genug Hinweise haben werden, um ihn aufzuhalten. Vielleicht wollte er, dass die Opfer gesehen werden."
Ferruccio seufzte tief und starrte auf das letzte Foto vor ihm.
F: „Magie… Sie zeigt uns immer etwas über den, der sie benutzt. Vielleicht ist das das Einzige, was wir wirklich über den Täter wissen können – seine Absicht."